Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

60 Die Organisation des Staates. Die Volksvertretung. l 26 
  
  
Der hiermit abgeschlossenen „definitiven Konstituierung"“, der sogenannten „Bildung beider 
Kammern“, geht als kurzes Provisorium die „vorläufige Konstituierung" durch einen groß- 
herzoglichen Kommissär (Erste Kammer) bzw. eine vom Großherzog ernannte „Einweisungs- 
kommission“ (Zweite Kammer) unter dem ersten Präsidenten bzw. einem Alterspräsidenten 
und zwei Schriftführern voraus (G. Art. 3, 4, 6) 1). Der erste bzw. zweite oder dritte Prä- 
sident ist zur Leitung der Geschäfte berufen und hat zu diesem Behuse „die Rechte und Pflichten 
der Kollegialvorstände“. Zu seinen Aufgaben gehört besonders das Bestimmen, Eröffnen und 
Schließen der Sitzungen, die Handhabung der Ordnung, die Ausübung der Polizei „während 
der Sitzungen in dem Sitzungssaale" 2), die Erteilung von Urlaub an Kammermitglieder (in 
dringenden Fällen allein, sonst mit der Kammer), die Ernennung und Überwachung des 
nötigen Kanzlei= und Dienstpersonals für die Dauer der Versammlung „unter Beirat der 
übrigen Mitglieder des Vorstandes“ (GO. Art. 14). Den Sekretären liegt die Leitung der 
Gesamtgeschäfte der Kanzlei ob; hierzu gehört auch die Beglaubigung der stenographischen 
Sitzungsprotokolle (Art. 16, 17). 
b) Ausschüsse. Jede Kammer wählt gemäß Art. 23 GO. aus ihrer Mitte zur 
Vorbereitung der Beratungen vier ständige Ausschüsse von 5—7 Mitgliedern und zwar: 
1. für das Finanzgesetz, die Staatsschulden und Finanzangelegenheiten, 2. für andere Geset- 
gebungsangelegenheiten, vorbehaltlich der Bildung besonderer Ausschüsse, nach Maßgabe der 
Gesetze v. 14. Juli 1836 u. v. 10. Mai 1842 3); 3. für Beschwerden von Einzelnen (Privat- 
personen) und Korporationen in Beziehung auf individuelle Interessen #), und für Wahl- 
prüfung; 4. für die übrigen an die Kammern gelangenden Geschäfte, insbesondere für die 
Petitionen von Einzelnen und Korporationen in Beziehung auf allgemeine Interessen. Jeder 
Ausschuß wählt aus seiner Mitte einen Präsidenten und einen Stellvertreter desselben; der 
Präsident ernennt für jeden einzelnen Gegenstand den Referenten (GO. Art. 23). 
Außer diesen ständigen Ausschüssen können von jeder Kammer für einzelne Beratungs- 
gegenstände auch noch besondere Ausschüsse gewählt werden; für die Geschäftsbehandlung 
1) Durch Art. 3 und 6 GO. werden die Bestimmungen der Art. 85 und 86 HB. über die 
vorläufige Konstituierung der beiden Kammern ihrem ganzen Inhalte nach ersetzt, wenngleich 
diese beiden Verfassungsartikel durch das Geschäftsordnungsgesetz von 1874 (Art. 59) üblicher- 
e nur „soweit“ aufgehoben wurden, als sie „im Widerspruche mit gegenwärtigem Gesetze 
tehen“. 
2) Die Ausdrucksweise des Art. 15 GOG. läßt keinen Zweifel darüber übrig, daß dem 
Präsidenten öffentlichrechtliche polizeiliche Befugnisse innerhalb des Landtagsgebäudes nur 
in den angegebenen Grenzen zustehen — eine etwaige Erweiterung dieser Befugnisse bedürfte 
der Form des Gesetzes. 
3) Die nach den Gesetzen v. 1836 u. 1842 bestellten besonderen Ausschüsse haben gegen- 
über den ständigen Ausschüssen vor allem insofern eine Sonderstellung, als sie, falls die Stände- 
versammlung vor Beendigung der Arbeiten des betreffenden Ausschusses vertagt und verab- 
schiedet wird, vorbehaltlich entgegenstehenden landesherrlichen Befehls, zur Fortsetzung ihrer 
Arbeiten, d. h. zur Prüfung des ihnen zugewiesenen Entwurfs versammelt bleiben. — Die 
vorbez. Gesetze v. 1836 u. 1842 beschränken die Bestellung solcher besonderen Ausschüsse auf die 
Beratung „größerer Werke der Gesetzgebung“, wobei es nach dem ausdrücklichen Zugeständ- 
nisse der Regierung jeder Kammer überlassen bleiben sollte, darüber zu befinden, ob eine Vorlage 
als ein größeres Gesetzgebungswerk anzusehen sei oder nicht; letzterenfalls bleibt es bei dem g- 
wöhnlichen Weg (s. LV. II 1835/36, Prot. B. 6, Prot. 109 S. 12 ff., bes. S. 16, 17, 19; L V. II, 
1841/42 Prot. B. 1, Prot. 29 S. 1; Beil. B. 2, Beil. Nr. 130 S. 5 f.). Die Ausnahmebestim- 
mungen der bez. Gesetze v. 1836 u. 1842 dienten in erster Linie der Durchführung des Art. 103 
HV. (Schaffung eines bürgerlichen Gesetzbuches, eines Strafgesetzbuches und einer Prozeß- 
ordnung), sind aber, obwohl Art. 103 nunmehr obsolet ist, vorbehaltlich der Zustimmung der 
Kammern für die Vorbereitung größerer Gesetzgebungswerke auch heute noch anwendbar, da 
die Regierung bei der Beratung des Gesetzes v. 1836 ausdrücklich auf die Möglichkeit von Gesetzes- 
vorlagen hinwies, welche der Art. 103 nicht besonders erwähnte und sich einem Amendement 
entgegengesetzten Sinnes erfolgreich widersetzte (s. LV. II 1836, Prot. 109 S. 16, 19). Der Ver- 
such der Regierung, das inzwischen niemals praktisch gewordene Gesetz v. 1836 aufs die Verfassungs- 
revisionsvorlage v. 29. April 1907 anzuwenden, scheiterte an dem Widerspruche der beiden 
Kammern; pvgl. hierüber besonders L V. II 1907; 33. Ldtg. Drucks. 476 (Regierungsvorlage) 
und 505 Prot. 61 (Ausschußber. v. Brentano). 
4) Vgl. GOG. Art. 23 Abs. 3 u. 4 mit HV. Art. 81 Abs. 1 u. 2; s. auch oben #§24, II Ziff. 1.
	        
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