Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

*+ 27 D. form. Geschäftsbehandlg. i. d. Ständeversamml. u. i. Verkehr m. d. Regierung. 63 
Beratung und Abstimmung gebracht werden soll. Letzterenfalls ernennt der Präsident für 
die Beratung einen oder mehrere Berichterstatter (GO. Art. 33) 1). 
Die Beratung geschieht unter Leitung des Präsidenten in jeder Kammer getrennt 
(GO. Art. 18, 39—42); bei Regierungsvorlagen kann die Regierung bestimmen, welche 
Kammer zuerst in die Beratung eintreten soll (Ausnahme beim Etatsgesetz gemäß HV. 
Art. 67 II). Die Mitglieder der Ministerien und die ernannten Landtagskommissäre können 
sowohl während der Beratung als auch nach Schluß der Diskussion zu jeder Zeit, jedoch ohne 
Unterbrechung eines anderen Redners, das Wort verlangen (GO. Art. 43). In zahlreichen 
Fällen — namentlich, wenn keine Verweisung an einen Ausschuß stattgefunden hatte — ist 
eine zweimalige Beratung notwendig; bei Gesetzesentwürfen erfolgt in der ersten 
Beratung die Abstimmung nur artikelweise, während erst bei der zweiten Beratung auch über 
Annahme oder Ablehnung im ganzen abgestimmt wird (GO. Art. 44, 45). 
Zu dem Zustandekommen eines rechtlich relevanten Landtagsbeschlusses ist 
in der Regel eine übereinstimmende selbständige Beschlußfassung beider Kammern erforderlich 
(Ausnahmen siehe unten, sowie GO. Art. 7 und 9, HV. Art. 97, 87 und 82). Zu den Er- 
fordernissen eines gültigen Kammerbeschlusses gehört nicht nur ab- 
solute Stimmenmehrheit, sondern außerdem noch in der Ersten Kammer die Abstimmung 
von wenigstens 12 Mitgliedern, in der Zweiten Kammer die Abstimmung von wenigstens 
27 Mitgliedern. Jedoch besteht hier eine praesumptio juris et de jure zu ungunsten der un- 
vollständig besetzten Kammer; insofern nämlich diese als in die Beschlüsse der vollständig 
besetzten Kammer einwilligend angesehen wird (GO. Art. 46, 47, 59; HV. Art. 93, 94) 2). 
Weiterhin erleidet die vorbezeichnete Regel, abgesehen von den durch HV. Art. 67, 75 be- 
dingten Besonderheiten, noch folgende Modifikationen: Bei Stimmengleichheit entscheidet, 
sofern die Regierung Antragstellerin ist, der Antrag der Regierung, anderenfalls die Meinung 
für das Bestehende und bei Beschwerden gegen öffentliche Behörden oder einzelne, die diesen. 
günstigere Ansicht. In allen anderen Fällen ist die gestellte Frage als verneint zu betrachten 
(GO. Art. 46, HV. 93). Besondere Grundsätze gelten endlich noch bezüglich der Abstimmung 
über Verfassungsänderungen: Abänderungen und Erläuterungen der Ver- 
fassungsurkunde bedürfen stets der Einwilligung beider Kammern; und zwar muß diese 
Einwilligung in jeder Kammer mit Zweidrittelmajorität aller abgegebenen Stimmen erfolgt 
sein und die Zahl der Zustimmenden muß in der Zweiten Kammer mindestens 26, in der 
Ersten Kammer mindestens 12 betragen (GO. Art. 48, HV. 110) 3). Die Veränderung der 
Mitgliederzahl der beiden Kammern nach Maßgabe des LstG. vom 3. Juni 1911 läßt eine 
Anderung dieser Bestimmungen als unbedingt notwendig erscheinen. 
II. Der geschäftliche Verkehr der Kammern unter sich und mit 
der Regierung vollzieht sich folgendermaßen: 
Die Kammern haben, von den besonders ausgenommenen Fällen abgesehen, keine 
Beratungen miteinander zu pflegen, sondern nur die gefaßten Beschlüsse sich gegenseitig 
schriftlich mitzuteilen (G. 49, 50; HV. 95, 97). Die gemeinschaftlichen (Ausnahme: GO. 52, 
HV. 82) Beschlüsse der Kammern werden dem Großherzog oder dessen Kommissär entweder 
in Form einer Adresse schriftlich übermittelt oder durch eine gemeinschaftliche Deputation 
persönlich überreicht (GO. 51). Im übrigen ist es den Ständen ausdrücklich untersagt, mit 
anderen Behörden als mit den Ministerien und den Landtagskommissären ins Benehmen 
zu treten; dies gilt auch für die Ausschüsse (HOV. 96, GO. 53). Wenn jedoch unter Hinweis 
auf Art. 96 HV. ein Publikandum des Geh. Staatsministeriums vom 7. Dezember 1829 (Jl. 
S. 109) jeden „zum Benehmen mit den Ständen nicht autorisierten Staatsdiener“ als ver- 
1) Bezüglich der in diesen Vorschriften gelegenen Neuerungen gegenüber dem früheren 
Rechtszustand vgl. L V. II 1873/75 Beil. B. 1 Nr. 24 S. 4 ff. u. L V. 11 1876/78, Beil. B. 6 Nr. 450, 
Prot. B. 6 Nr. 76 S. 40—62; Nr. 77 S. 11—14. Am letztbezeichneten Orte s. namentlich auch 
über das Verhältnis zwischen GO. Art. 33 und HV. Art. 67. 
2) UÜber die praktische Bedeutung dieser Bestimmung s. Cosack S. 29. 
3) Uber die Unterscheidung von verfassungsmäßigen und einfachen Gesetzen und über die 
Bedeutung des Art. 110 HV. (GO. Art. 48) s. unten §& 64 und die dortigen Quellenangaben.
	        
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