Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

32 Wesen, Träger und Gegenstand der Ministerverantwortlichkeit. 71 
  
Darmstadt als Staatsgerichtshof, sondern an die obersten Staatsbehörden; sie sind es, welche 
die Beschwerde auf ihr Begründetsein zu untersuchen, erforderlichen Falles Abhilfe zu schaffen 
und je nach den Umständen den Schuldigen zu bestrafen oder auf dem gewöhnlichen Wege 
die Einleitung zu seiner Bestrafung zu machen haben. Zu einer Anklage im Sinne des Minister- 
verantwortlichkeitsgesetzes kann es dagegen erst dann kommen, wenn die zuständige oberste 
Behörde das Verfahren der Unterbehörde gutheißt, die Sache also zu ihrer eigenen macht 
und so selbst der beklagte Teil wird 1). 
Demnach kommen als verantwortliche „Minister und oberste Staatsbeamte“ im Sinne 
des Ministerverantwortlichkeitsgesetzes regelmäßig nur diejenigen Beamten in Betracht, welche 
als Vorstände eines Ministeriums oder als dessen Stellvertreter mit der selbständigen Leitung 
eines bestimmten Verwaltungszweiges betraut sind; zu diesen treten unter Umständen noch 
solche Staatsbeamte, welche, ohne an der Spitze eines Ressorts zu stehen, bestimmte ein- 
zelne ministerielle Funktionen (z. B. Sitz und Stimme im Ministerrat) wahrzunehmen 
haben („Minister ohne Portefeuille") 2). 
Die Verantwortlichkeit der genannten Beamten kann auch dann noch geltend gemacht 
werden, wenn sie vor der wirklich erfolgten Anklage ihr Amt niedergelegt haben oder von 
demselben entfernt worden sind (MVG. Art. 2). 
2. Gegenstand der Ministerverantwortlichkeit sind nach Art. 1 des M. vom 
5. Juli 1821: 
a) Gesetzwidrige Handlungen der Minister. Unter diesen Begriff 
fallen sowohl Begehungshandlungen als auch Unterlassungeng), in- 
soweit dieselben die Verletzung einer Rechtsvorschrift des Staatsrechts darstellen. Dabei 
ist es gleichgültig, ob die verletzte Rechtsvorschrift in die Form eines Verfassungsgesetzes ge- 
kleidet ist 1), oder ob sie der Form des Gesetzes überhaupt entbehrt 5), sofern nur ihr Inhalt 
ein staatsrechtlicher ist. Gesetzwidrigkeiten, welche sich lediglich als Verletzungen des Zivil- 
rechts oder des Strafrechts und nicht auch gleichzeitig als Verletzungen des Staats- 
rechts gualifizieren, bilden nicht den Gegenstand der Ministeranklage — ersteres ist selbst- 
verständlich und bedarf keiner weiteren Erörterung, letzteres ergibt sich aus der Entstehungs- 
geschichte des hessischen Ministerverantwortlichkeitsgesetzes 3) und, seit der Geltung der Reichs- 
justizgesetze aus der Unmöglichkeit des Bestehens landesrechtlicher Sondergerichtshöfe zur 
strafrechtlichen Verfolgung von Ministern 7). Es ist sowohl nach dem ursprünglichen, und 
niemals widerrufenen Willen des hessischen Gesetzgebers als auch nach der Reichsgesetzgebung 
1) Vgl. oben Anm. 2 der vorigen Seite und speziell LV. 1 1820, Beil. 15 S. 59 (Staats- 
minister Frhr. du Thil); s. auch Esselborn, Diss. S. 94 f. 
2) Die Definition des Begriffs „Minister“ als derjenigen höchsten Beamten, „welche an 
der Spitze eines Berwaltungszweiges stehen und mit dem NRechte der Kontrasignatur ausgestattet 
sind“", bei Meyer-Anschütz, 683, Geßner S. 20 ff., ist m. E. zu eng. Einmal 
um beswillen, weil sie die Minister — Portefeuille nicht mit umfaßt, und sodann um des- 
willen, weil sie das Recht der Kontrafignatur als ein Essentiale der Ministerverantwortlichkeit 
erscheinen läßt. 
3) Vgl. L BV. II 1820—21, Prot. u. Beil. B. 2, Beil. 106 S. 16 ff. 
4) So richtig, Geßner S. 31, Eilelnor Diss. S. 14. 
5) Unrichtig Esselborn, Diss. S 103, der behauptet, die Verletzung einer Rechts- 
verordnung begründe keine ständische Anklage, „da die Stände hierbei kein Mitwirkungs- 
recht haben.“ Bei dem Ausdrucke „gesetzwidrig“ ist zweifellos an Gesetz im materiellen Sinne 
edacht, was allerdings auch Esselborn selbst annimmt, da er ja Verletzungen des Gewohn- 
hesrichts als gesetzwidrig anerkennt. Der für Esselborns Begründung anscheinend maßgebende 
Gedanke, daß die Ministeranklage zum Schutze subiektiver ständischer Rechte dienen 
solle, steht im Widerspruch mit der Stellung der heutigen Volksvertretung als Staatsorgan. 
6) Vgl. Geßner S. 35f.; LV. 1 1820—21, H. 1, Beil. 15 S. 61 ff. Vgl. auch Essel- 
born, Wnnalen., S. 4. Auffälligerweise verweisen weder Geßner noch Esselborn, 
in Diss. u. Ann., zum Beweise der staatsrechtlichen (nicht strafrechtlichen) Natur der Minister- 
verantwortlichkeit auf die von dem Staatsminister v. Grolman — dem bekannten Krimi- 
nalisten — zur Begründung des Ministerverantwortlichkeitsgesetzes mündlich vorgetragenen 
Motive (LV. II 1820—21 Prot. u. Beil. B. 2, Beil. 28 S. 10 ff.). 
7) Passow S. 32.
	        
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