Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

8 32 Wesen, Träger und Gegenstand der Ministerverantwortlichkeit. 73 
  
nach dem ausdrücklichen Anerkenntnis der Regierung !) unter Umständen auch schon „eine 
augenblickliche Nichtachtsamkeit, ein Irrtum —eine unrichtige 
Ansicht“ die Verantwortlichkeit begründen kann, so muß hierbei doch stets ein über 
bloße Pflichtwidrigkeiten hinausgehendes Verschulden vorliegen ?). 
b) „Nichterfüllungder Zusagendes Regenten an die Ständess). 
Das hessische Ministerverantwortlichkeitsgesetz hat, indem es die Minister nicht nur für eigent- 
lich gesetzwidrige Handlungen, sondern auch schon für die an sich nicht gesetzwidrige Nicht- 
erfüllung der Zusagen des Regenten an die Stände haftbar machte, den Begriff der die 
Ministerverantwortlichkeit bedingenden Handlungen wesentlich weiter gefaßt, als dies in 
anderen Staaten geschehen ist. Der historische Grund zu dieser Erweiterung der Minister- 
verantwortlichkeit ist ein doppelter: Einerseits das damals noch in frischester Erinnerung 
stehende, mit den wiederholten Versprechungen des Großherzogs in direktem Widerspruch 
stehende Zögern der Regierung beim Erlasse der Verfassungsurkunde "4); andrerseits die Tat- 
sache, daß mit dem Erlasse der Verfassungsurkunde das Verfassungswerk und die beabsichtigte 
Neuordnung des Rechts in Hessen noch nicht abgeschlossen war, daß es hierzu vielmehr noch 
einer Reihe wichtiger Regierungsakte bedurfte, die vom Großherzog zwar zum Teil schon in 
verfassungsmäßiger Form zugesagt worden waren 5), deren Nichtvornahme aber gleichwohl 
nicht ohne weiteres als eine „gesetzwidrige“ Handlung bzw. Unterlassung angesehen werden 
konnte ). Die Bedeutung der fraglichen Bestimmung liegt also darin, daß hierdurch den 
Ständen die Befugnis erteilt wurde, die Ministeranklage nicht erst dann zu verlangen, wenn 
wurde, „daß der Zweck des Gesetzes und der Anklage sich bloß auf eine 
Garantie der Verfassung und der großherzoglichen Zusagen be- 
schränke“, und daß deshalb beispielsweise keine Anklage stattfinden könne, „wenn der Minister 
dem Trunke zu sehr ergeben sei, das Dekorum zu sehr beiseite setze oder ähnliche Handlungen 
T Beschlußfassung L V. 1 1820/21 Prot. 56 S. 145. Vgl. auch a. a. O. Beil. 99 [Arens), 
. 87f. 
1) Siehe LV. 1 1820/21, H. 1 S. 61, Beil. 15. 
2) Vgl. auch L V. II 1820/21 Prot. u. Beil. B. 2, Beil. 106 (Ausschußbericht Floret) über 
die Anwendung der allgemein geltenden Rechtsprinzipien in bezug auf Vorsatz, Fahrlässigkeit 
und Irrtum. — Durch die Annahme, daß ein Minister vom Staatsgerichtshof nur beim Vor- 
liegen eines subjektiven Verschuldens verurteilt werden könne, wird das Verfahren vor dem Staats- 
gerichtshofe m. E. noch nicht zu einem Strafverfahren gestempelt. A. M. Pistorius, Die 
Staatsgerichtshöfe und die Ministerverantwortlichkeit nach heutigem deutschem Staatsrecht, 
Tübingen 1891, S. 180. 
3) Vgl. hierüber L B. II 1820 Prot. Beil. B. 2, Beil. 106 (erster Ausschußbericht Floret), 
besonders S. 14 ff. 
4) Vgl. die Darstellung der Entstehungsgeschichte der hess. Verfassung in van Calker, 
Verfassungsgesetze, S. 11 ff., Andres, S. 119 ff. 
5) Vgl. z. B. HV. 45, 103. 
6) Weiß a. a. O. S. 550 Note gq meint, seitdem das Ministerverantwortlichkeitsgesetz 
die Erfüllung der Zusagen des Regenten an die Stände den Ministern „zur Pflicht gemacht“ 
habe, erscheine auch die Nichterfüllung „dieser gesetzmäßigen Verpflichtung“ als eine „Gesetz- 
widrigkeit“ und die Minister hafteten daher nunmehr überhaupt nur wegen „Gesetzwidrig- 
keiten“, worunter die angegebene „Nichterfüllung der Zusagen des Regenten an die Stände“ 
miteinbegriffen sei. Diese Meinung, der sich Esselborn, Diss. S. 102 und Geßner S. 31 
ohne Kritik anschließen, ist irrtümlich. Durch den Art. 1 des MVG. wurde keineswegs ein Rechts- 
satz des Inhalts aufgestellt, daß die Zusagen des Regenten von den Ministern erfüllt werden 
müßten ; die fragliche Gesetzesbestimmung besagt vielmehr lediglich, daß die Minister für 
die Nichterfüllung verantwortlich sind. Es würde dem Wesen der Ministerverantwort- 
lichkeit direkt widersprechen, wenn man den Satz aufstellen wollte, daß die Erfüllung landesherr- 
licher Zusagen an die Stände — gleichgültig, welchen Inhalt diese Zusage hat, und in welcher 
Form sie erfolgte — für die Minister Gesetz und daß die Nichterfüllung dieser Pflicht objektiv 
gesetzwidrig sei. Wo bliebe da die Pflicht der Minister, zu prüfen, ob sie die Ver- 
antwortung für eine Regierungshandlung übernehmen dürfen und wollen, und wie stünde es 
da um die Verwirklichung des wichtigsten Grundsatzes des Ministerverantwortlichkeitsgesetzes 
(Art. 1), daß die Minister „sich nie zur Entschuldigung auf angebliche Be- 
fehle des Regenten berufen können"? Es würde, wie auch schon der Ausschuß- 
bericht der I. Kammer (Oberappellationsgerichtsrat Dr. Arens) gelegentlich der Beratung des 
M. mit Recht bemerkt (LV. 1 1820 Beil 13 S. 44), ebenso ungerecht als absurd sein, den 
Minister für verantwortlich zu erklären, und ihm gleichzeitig die unbedingte Unterordnung seiner 
 
	        
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