Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

g 33 Erhebung und Durchführung der Ministeranklage. 75 
  
II. Gericht und Verfahren. 1. Nach MVG. Art. 3 ist zur Führung der 
Untersuchung und zur Fällung der Entscheidung im Ministeranklageverfahren ausschließlich 
das „Oberappellationsgericht", d. i. das heutige Oberlandesgericht Darmstadt zuständig. 
Diese Zuständigkeit besteht auch heute noch fort, insofern als das Oberlandesgericht durch 
die hessische Landesgesetzgebung im Einklang mit § 4 des Einführungsgesetzes zum Gerichts- 
verfassungsgesetz mit der Durchführung des Ministeranklageprozesses betraut und damit 
als Staatsgerichtshof bestellt ist 1). Dagegen hat das Oberlandesgericht die Eigen- 
schaft eines Strafgerichts im Ministerverantwortlichkeitsprozeß — soweit es diese 
Eigenschaft überhaupt jemals besaß — infolge des Inkrafttretens des Reichsgerichtsverfassungs- 
gesetzes selbstverständlich verloren:). 
Die Kompetenz des Oberlandesgerichts, sich mit einer Ministeranklage zu befassen, wird 
erst dann praktisch, wenn der Großherzog selbst einen Minister oder obersten Staatsbeamten 
„in den Anklagestand versetzt hat“; die Stände können von sich aus keine Anklage vor den 
Staatsgerichtshof bringen (MVG. Art. 4). Durch die Tatsache, daß die den Gegenstand der 
Ministeranklage bildende Handlung im Augenblicke der Erhebung der Ministeranklage den 
Gegenstand eines Strafprozesses bildet, oder daß schon früher ein Strafgericht mit der gleichen 
Sache befaßt war, wird die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs nicht berührt. Denn das 
Ministeranklageverfahren ist, wie schon oben (S. 72) auseinandergesetzt wurde, von einem 
etwaigen Strafverfahren rechtlich durchaus unabhängig. Das gleiche gilt von einem etwaigen 
Disziplinarverfahren. Es kann also wegen derselben gesetzwidrigen Handlung, abgesehen 
von etwaiger zivilrechtlicher Inanspruchnahme, neben= oder nacheinander ein strafrechtliches, 
ein disziplinarrechtliches und ein staatsrechtliches (Ministeranklage) Verfahren — und dem- 
zufolge auch eine mehrmalige „Bestrafung“ — stattfinden 3). 
Hinsichtlich der Zusammensetzung des Staatsgerichtshofs bestimmt 
das MVG. in Art. 5 nur soviel, daß jener auf Wunsch des Angeklagten wenigstens mit einem 
Präsidenten und sieben Räten besetzt sein muß. Die im Einzelfall etwa erforderlichen Er- 
gänzungsrichter (MVG. Art. 7 und 8) werden vom Oberlandesgericht aus der 
Gesamtzahl der Richter des Landes mit der Maßgabe ausgewählt, daß für jeden erforder- 
lichen Ersatzrichter zwei Personen „ernannt“ werden, von welchen der Angeklagte die eine 
nach freiem Belieben auszuschließen hat (Gesetz, die Verantwortlichkeit der höchsten Staats- 
behörden betr., vom 8. Januar 1824, Einziger Artikel). 
2. Bezüglich des Verfahrens hat das MVG. keine Bestimmung getroffen, da 
sich die gesetzgebenden Faktoren bei der Beratung und dem Erlasse des Gesetzes darüber einig 
waren, daß kein Grund vorliege, für die Ministeranklage ein anderes als das vor dem Ober- 
appellationsgericht auch sonst übliche Verfahren einzuführen "). Da hierin inzwischen keine 
Anderung eingetreten ist, finden heute, soweit die Vorschriften des allgemeinen Strafprozeß- 
rechts in Betracht kommen, für den Strafprozeß die Bestimmungen der Reichsstrafprozeß- 
ordnung — also namentlich die Prinzipien der Offentlichkeit und der Mündlichkeit — sinn- 
gemäße Anwendung 5). Soweit die bestehenden Vorschriften nicht ausreichen, ist es Sache 
des Landesherrn, auf Grund des ihm nach Art. 4, 73 HV. zustehenden Organisations- und 
Ausführungsverordnungsrechts das Erforderliche anzuordnen ). 
1) Bgll. Pistorius S. 143 ff., bes. S. 153, Esselborn, Diss. S. 113. 
2) Insoweit richtig Cosack S. 51 u. Pistorius a. a. O. 
3) So bezüglich der Konkurrenz zwischen Strafverfahren und Ministeranklageprozeß richtig 
Pistorius S. 176f. 
4) Bgl. L V. II 1820 B. 3 Beil. 106 S. 21 (erster Ausschußbericht Floret) u. Floret, 
Dorstellung der Verhandlg. der Ständeversamml. d. Großh. H. 1820/21, Gießen 1822, S. 193. 
5) Insoweit pflichte ich Esselborn, Diss. S. 117 u. Ann. S. 553 f. bei; im einzelnen 
halte ich seine eingehenden Ausführungen über das Verfahren (Diss. S. 116—122) teilweise 
für stark hypothetisch. — Richtig ist die Kritik Esselborns Ann. S. 554 Anm. 1 gegenüber 
Geßner S. 44. 
6) Richtig Esselborn Ann. S. 554. Hierin liegt eine stillschweigende Richtigstellung 
der früheren Weführungen Esselborns, Diss. S. 117, wonach im Falle, daß der Groß- 
herzog den Minister nicht aus eigener Initiative in den Anklagestand versetzt hat, „nur die Volks-
	        
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