g 33 Erhebung und Durchführung der Ministeranklage. 75
II. Gericht und Verfahren. 1. Nach MVG. Art. 3 ist zur Führung der
Untersuchung und zur Fällung der Entscheidung im Ministeranklageverfahren ausschließlich
das „Oberappellationsgericht", d. i. das heutige Oberlandesgericht Darmstadt zuständig.
Diese Zuständigkeit besteht auch heute noch fort, insofern als das Oberlandesgericht durch
die hessische Landesgesetzgebung im Einklang mit § 4 des Einführungsgesetzes zum Gerichts-
verfassungsgesetz mit der Durchführung des Ministeranklageprozesses betraut und damit
als Staatsgerichtshof bestellt ist 1). Dagegen hat das Oberlandesgericht die Eigen-
schaft eines Strafgerichts im Ministerverantwortlichkeitsprozeß — soweit es diese
Eigenschaft überhaupt jemals besaß — infolge des Inkrafttretens des Reichsgerichtsverfassungs-
gesetzes selbstverständlich verloren:).
Die Kompetenz des Oberlandesgerichts, sich mit einer Ministeranklage zu befassen, wird
erst dann praktisch, wenn der Großherzog selbst einen Minister oder obersten Staatsbeamten
„in den Anklagestand versetzt hat“; die Stände können von sich aus keine Anklage vor den
Staatsgerichtshof bringen (MVG. Art. 4). Durch die Tatsache, daß die den Gegenstand der
Ministeranklage bildende Handlung im Augenblicke der Erhebung der Ministeranklage den
Gegenstand eines Strafprozesses bildet, oder daß schon früher ein Strafgericht mit der gleichen
Sache befaßt war, wird die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs nicht berührt. Denn das
Ministeranklageverfahren ist, wie schon oben (S. 72) auseinandergesetzt wurde, von einem
etwaigen Strafverfahren rechtlich durchaus unabhängig. Das gleiche gilt von einem etwaigen
Disziplinarverfahren. Es kann also wegen derselben gesetzwidrigen Handlung, abgesehen
von etwaiger zivilrechtlicher Inanspruchnahme, neben= oder nacheinander ein strafrechtliches,
ein disziplinarrechtliches und ein staatsrechtliches (Ministeranklage) Verfahren — und dem-
zufolge auch eine mehrmalige „Bestrafung“ — stattfinden 3).
Hinsichtlich der Zusammensetzung des Staatsgerichtshofs bestimmt
das MVG. in Art. 5 nur soviel, daß jener auf Wunsch des Angeklagten wenigstens mit einem
Präsidenten und sieben Räten besetzt sein muß. Die im Einzelfall etwa erforderlichen Er-
gänzungsrichter (MVG. Art. 7 und 8) werden vom Oberlandesgericht aus der
Gesamtzahl der Richter des Landes mit der Maßgabe ausgewählt, daß für jeden erforder-
lichen Ersatzrichter zwei Personen „ernannt“ werden, von welchen der Angeklagte die eine
nach freiem Belieben auszuschließen hat (Gesetz, die Verantwortlichkeit der höchsten Staats-
behörden betr., vom 8. Januar 1824, Einziger Artikel).
2. Bezüglich des Verfahrens hat das MVG. keine Bestimmung getroffen, da
sich die gesetzgebenden Faktoren bei der Beratung und dem Erlasse des Gesetzes darüber einig
waren, daß kein Grund vorliege, für die Ministeranklage ein anderes als das vor dem Ober-
appellationsgericht auch sonst übliche Verfahren einzuführen "). Da hierin inzwischen keine
Anderung eingetreten ist, finden heute, soweit die Vorschriften des allgemeinen Strafprozeß-
rechts in Betracht kommen, für den Strafprozeß die Bestimmungen der Reichsstrafprozeß-
ordnung — also namentlich die Prinzipien der Offentlichkeit und der Mündlichkeit — sinn-
gemäße Anwendung 5). Soweit die bestehenden Vorschriften nicht ausreichen, ist es Sache
des Landesherrn, auf Grund des ihm nach Art. 4, 73 HV. zustehenden Organisations- und
Ausführungsverordnungsrechts das Erforderliche anzuordnen ).
1) Bgll. Pistorius S. 143 ff., bes. S. 153, Esselborn, Diss. S. 113.
2) Insoweit richtig Cosack S. 51 u. Pistorius a. a. O.
3) So bezüglich der Konkurrenz zwischen Strafverfahren und Ministeranklageprozeß richtig
Pistorius S. 176f.
4) Bgl. L V. II 1820 B. 3 Beil. 106 S. 21 (erster Ausschußbericht Floret) u. Floret,
Dorstellung der Verhandlg. der Ständeversamml. d. Großh. H. 1820/21, Gießen 1822, S. 193.
5) Insoweit pflichte ich Esselborn, Diss. S. 117 u. Ann. S. 553 f. bei; im einzelnen
halte ich seine eingehenden Ausführungen über das Verfahren (Diss. S. 116—122) teilweise
für stark hypothetisch. — Richtig ist die Kritik Esselborns Ann. S. 554 Anm. 1 gegenüber
Geßner S. 44.
6) Richtig Esselborn Ann. S. 554. Hierin liegt eine stillschweigende Richtigstellung
der früheren Weführungen Esselborns, Diss. S. 117, wonach im Falle, daß der Groß-
herzog den Minister nicht aus eigener Initiative in den Anklagestand versetzt hat, „nur die Volks-