Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

§ 35 Die geschichtliche Entwicklung der mittleren und unteren Verwaltungsorganisation. 81 
  
gerichtsmänner (Gerichtspersonen) werden vom Justizministerium auf Vorschlag des Amts- 
gerichts widerruflich ernannt. Die Geschäftsführung der Ortsgerichte ist landesrechtlich ge- 
regelt. Die Aufsicht und Disziplin über die Ortsgerichte wird in erster Instanz von dem Auf- 
sicht führenden Richter des Amtsgerichts, in zweiter Instanz von dem Landgerichtspräsidenten 
geführt; gegen Disziplinarverfügungen des letzteren ist Beschwerde an das Ministerium der 
Justiz statthaft. 
VI. Die Einrichtung der Rechtsanwaltschaft beruht auf Reichsrecht und ist 
daher hier nicht darzustellen 1). 
E. Die Verwaltungsbehörden. 
s 35. Die geschichtliche Entwicklung der mittleren und unteren Verwaltungs- 
organisation. I. Die Grundlage der Lokalverwaltung bildeten in den althessischen Landen im 
Anfange des 19. Jahrhunderts neben den vom Staate ernannten Gemeindeorganen 2) die 
sogenannten Amter, welche sowohl mit der Justiz als auch mit der Verwaltung betraut waren?). 
Ihnen waren die sogenannten Regierungskollegien — je eines für jede Provinz — 
übergeordnet, welche einerseits als Justiz-- und Appellationskollegien fungierten und andrer- 
seits die eigentlichen Regierungssachen einschließlich der Landespolizei zu besorgen hatten. 
Neben dem Regierungskollegium bestand in jeder Provinz ein Konsistorium, welches 
die landesherrlichen Rechte in Kirchen- und Schulsachen zu verwalten und zugleich als Gerichts- 
hof für Ehesachen, Alimentationsstreitigkeiten u. a. tätig zu werden hatte. An der Spitze jedes 
Amtes stand ein Amtmann, dessen Geschäftskreis, soweit nicht einzelne Angelegenheiten 
ausdrücklich an andere Behörden überwiesen waren, die Gerichtsbarkeit erster Instanz und 
die gesamte innere Verwaltung umfaßte. 
II. Im Jahre 1821 erfolgte die seit langem vorbereitete Trennung der Justiz von der 
Verwaltung. Durch Edikt vom 14. Juli 1821 (RBl. S. 403) wurden in den beiden älteren 
Provinzen (Starkenburg und Oberhessen) an Stelle der bisherigen Amter gesonderte Land- 
ratsbezirke und Landgerichtsbezirke (in Starkenburg zunächst je 11, in Ober- 
hessen 13) geschaffen, welche je einem Landrate bzw. je einem Landrichter unter- 
stellt wurden. Die Landräte erhielten alle diejenigen Kompetenzen in Regierungs- und 
Administrativsachen, welche bisher den Amtmännern in ihrer Eigenschaft als Administrativ- 
behörden zugestanden hatten. Den Landrichtern dagegen wurde innerhalb der gesetzlichen 
Grenzen die gesamte Zivil- und Strafgerichtsbarkeit übertragen ). 
III. Zu Beginn der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts wurde eine wesentliche Ver- 
einfachung der unteren Verwaltungsorganisation vorgenommen. Die Regierungen der Pro- 
vinzen Starkenburg und Oberhessen wurden als besondere selbständige Behörden aufgehoben 
und durch Provinzialkommissäre ersetzt; die Regierung der Provinz Rheinhessen 
wurde in die einfachere Gestalt einer „Provinzialdirektion" übergeführt. An die 
Stelle der gleichzeitig aufgehobenen 23 Landratsbezirke der alten Provinzen traten 12 Kreise; 
die an deren Spitze gestellten Kreisräte übernahmen innerhalb ihrer Verwaltungsbezirke 
im wesentlichen die Funktionen, welche bisher von den aufgehobenen Regierungen, Landräten 
und Polizeideputationen — solche hatten in Darmstadt und Gießen bestanden — versehen 
worden waren. Eine besondere Stellung erhielten die Kreisräte in den Provinzialhaupt- 
städten Darmstadt und Gießen, den bisherigen Amtssitzen der aufgehobenen Provinzial- 
regierungen von Starkenburg und Oberhessen, insofern, als sie zugleich mit dem Amte der 
—. —— — 
1) Vgl. Rechtsanwaltsordnung v. 1. Juli 1878; Laband S. 328. 
2) Vgl. Karl Ahl, Die geschichtlichen Grundlagen der staatlichen Gemeindeaufsicht im 
Großh. Heffen im 19. Jahrh., Gießener Diss., Mainz 1911; und Gregor Wennesheimer, 
Die Zusammensetzung der Gemeindevertretung in den Stadt- und Landgemeinden des Großh. 
Hessen usw., Gießener Diss., Darmstadt 1910. 
3) Vgl. Ludwig Schneider, Die Stellung des hessischen Kreisrats in ihrer geschicht- 
lichen Entwicklung bis zur Neuorganisation von 1874, Gießener Diss., Darmstadt 1912. 
1 4) Siehe Amtsinstruktion v. 28. XI. 1821, RBl. S. 687, und Dienstinstruktion v. 3. XII. 
821, RBl. S. 711. 
van Calker, Hessen. 6
	        
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