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19 mit dem §. 16 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870. Nach letzterem Paragraph behalten
Wittwen etc. den bei Auflösung der Ehe gehabten Unterstützungswohnsitz so lange, bis sie denselben
selbständig verloren oder einen anderen Unterstützungswohnsitz erworben haben. Bezüglich des
Unterstützungswohnsitzes der Kinder bestimmt nun das Gesetz nicht, daß sie denjenigen, welchen
sie bei Zurücklegung des 24. Lebensjahres atzessorisch haben, behalten, sondern es verordnet, daß
sie auch nach dlesem Zeitpunkte denjenigen des Vaters etc. so lange theilen, bis eine Veränderung
durch ihre eigenen Aufenthaltsverhältnisse eintritt.
Zur Auslegung der §§. 14. 27. des Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz — Erkenntniß des Bundes-
amtes vom 20. April 1874 in Sachen Apolda contra Hammerstedt.
Der seit dem 12. August 1873 der Amenpflege in Apolda anheimgefallene Handarbelter K.,
41 Jahre alt, hat schon im Jahre 1864 in Apolda seinen Wohnsitz aufgeschlagen und bis jetzt bei-
behalten, war aber nach Ansicht des Klägers am 12. August 1873 seines unbestritten in Hammer-
stedt früher bestandenen Hilfsdomizils noch nicht verlustig gegangen, weil er inzwischen längere Zeit,
nämlich vom 17. Juni bis 28. September 1872, dann vom 17. Oktober 1872 bis 12. April 1873
und wiederum vom 5. Juni bis 12. August 1873 durch Verpflegung im Landkrankenhause zu Jena
öffentliche Unterstützung empfangen hatte. Dagegen ist Verklagter der Meinung, daß während der
Verpflegung im Landkrankenhause dle am 1. Juli 1871 begonnene zweijährige Frist für den Verlust
des Unterstützungswohnsitzes nicht geruht habe, indem K. nicht auf Kosten eines Armenverbandes,
sondern auf Kosten der Staatskasse des Großherzogthums Sachsen-Weimar kraft landesgesetzlicher Ver-
pflichtung verpflegt worden sei, und daß daher die Verlustfrist vor dem Eintritte der jetzt in Frage
stehenden Unterstützung zu Ende gegangen sei. Der erste Richter ist dieser Ansicht beigetreten und
hat den Kläger mit selnem Anspruche auf Ersatz der aufgewendeten und noch aufzuwendenden Armen-
pflegekosten abgewiesen.
Die fristzeitig eingewendete Berufung des Klägers ist begründet. Im Großherzogthum Sachsen-
Weimar besteht die Einrichtung, daß der Verpflegungsaufwand für hilfsbedürftige Kranke, welche
auf Anordnung der zuständigen Behörde in ein Landkrankenhaus, in die Irrenanstalt oder in das
Landeshospital aufgenommen werden, in der zuletzt genannten Anstalt zur Hälfte vom Staate, zur
Hälfte von dem fürsorgepflichtigen Armenverbande, im Landkrankenhause und in der Irrenanstalt
vom Staate ganz getragen wird. Diese aus der älteren Gesetzgebung (Gesetz vom 23. Februar
1850 §. 51, Gesetz vom 11. Januar 1854 §. 3) übernommene, in §. 7 des Ausführungsgesetzes
zum Reichsgesetze über den Unterstützungswohnsitz vom 23. Februar 1872 aufrecht erhaltene Ver-
bflichtung der Staatskasse bezweckt ähnlich der in demselben §. 7 verordneten Unterstützung über-
lasteter Armenverbände aus Staatsmitteln eine bessere Ausgleichung der Armenlast. So wie ander-
wärts größere Verbände zur gemeinschaftlichen Bestreitung der Kosten einzelner besonderer Zweige
der öffentlichen Armenpflege organisirt sind, so übernimmt im Großherzogthum Sachsen-Weimar der
Staat in gewissem Umfange die Verpflegung armer Kranker in Landesanstalten. Derselben ist der
Charakter einer Armenunterstützung dadurch vollständig gewahrt, daß sie nur hilfsbedürftigen Personen
zu theil wird, und daß der fürsorgepflichtige Armenverband in Betreff einzelner Kategorien von
Kranken wenigstens zu einer Beitragsleistung herangezogen wird. Während der Dauer einer solchen
Verpflegung ruht daher auch die Frist für den Erwerb und Verlust des Unterstützungswohn-
sitzes. Denn es macht im Sinne der §§. 14. 27. des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 keinen
Unterschied, ob die Armenunterstützung von einem einzelnen Armenverbande oder von einer Ver-
einigung mehrerer Armenverbände oder auch von der Gesammtheit aller Ortsarmenverbände eines
Staates geleistet wird.
Berücksichtigt man noch, daß im Großherzogthum Weimar Staat und Landarmenverband
zusammenfallen, daß also die in §. 7 leg. cit. nominell dem Staate auferlegte Armenpflege einer
vom Landarmenverbande ausgehenden Unterstützung thatsächlich in jeder Hinsicht gleichsteht, so ist es
um so weniger gerechtfertigt, die dem etc. K. im Landkrankenhause gewährte Verpflegung von der
Subsumtion unter die §§. 14. 27. des Reichsgesetzes auszuschließen.
Wenn man die Zeitdauer dieser Verpflegung (über 11 Monate) von der Zeitdauer der Ab-
wesenheit nach dem 1. Juli 1871 in Abzug bringt, so war am 12. August 1873 die zweijährige
Verlustfrist noch nicht erfüllt. Verklagter hat daher mit Unrecht die Pflicht der Fürsorge für den
unbestritten hilfsbedürftigen K. abgelehnt und war dem Klageantrage entsprechend zu verurthellen,
woraus seine Verbindlichkeit zur Tragung der Kosten des Streltverfahrens sich von selbst ergiebt.
Berlin, Carl Heymann's Verlag: Inhaber: Otto Loewenstein — Druck von F. Hoffschläger in Berlin.