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Verklagter zur Erstattung der gesammten seit 18. Januar cr. der etc. N. N. zu gewährenden Unter-
stützung von wöchentlich 15 Sgr. zu verurtheilen.
Der Verklagte beantragt die Verwerfung der klägerischen Berufung, weil die ganze Klage
unbegründet sei und weil Kläger immerhin dem eventuellen Ueberführungsantrage hätte statt-
geben müssen.
Seinerselts hat er Berufung deshalb eingelegt, weil die Klage nicht völlig abgewiesen sei.
Der erste Richter hatte sich auf §. 9 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 und auf §. 16 der
kurhessischen Gemeindeordnung vom 23. Oktober 1834 bezogen, um darzuthun, daß die etc. N. N.
den Unterstützungswohnsitz ihres Mannes theile. Verklagter hebt nun hervor, daß nach der eignen
Feststellung des ersten Richters die Verheirathung der N. N.'schen Eheleute am 22. April 1869 in
Hamburg stattgefunden habe. Das Reichsgesetz habe damals noch nicht gegolten. Der allegirte
Paragraph der kurhessischen Gemeindeordnung beziehe sich nur auf die Gemeindeangehörigkeit und
sel keinenfalls auf die gegenwärtige Sache anwendbar, weil hier ein freiwilliger Ueberzug in eine
andere Gemeinde seitens der etc. N. N. nicht vorliege. Vielmehr sei hier das kurhessische Staats-
ministerial-Ausschreiben vom 20. November 1825 anwendbar, wonach eine Ausländerin durch Ver-
heirathung mit einem Hessen ein Heimathrecht in Hessen nicht erlange, wenn dieser gewisse vor-
geschriebene Bescheinigungen nicht beschafft habe.
Es war, wie geschehen, zu erkennen.
Sowohl in Bezug auf die Berufung des Klägers als auf die des Verklagten ist die Vorfrage
entscheldend, ob die etc. N. N. den Unterstützungswohnsitz in Hainrode hat. Diese Frage ist zu be-
jahen. Daß der Ehemann derselben das Heimathrecht daselbst am 29. September 1868 besaß, steht
durch den Heimathschein von diesem Datum fest. Durch seine am 22. April 1869 eingegangene
Ehe mit Johanne Karoline B. hat letztere dieses Heimathrecht erworben. Denn der §. 16 der
kurhessischen Gemeindeordnung vom 23. Oktober 1834 beftimmt unter der Unterschrift: „Erwerb der
Gemeindeangehörigkeit durch Aufnahme und durch Heirath“ wörtlich:
Bei dem freiwilligen Ueberzuge in eine andere Gemeinde wird die Gemeindeangehörigkeit
durch die Aufnahme zum Ortsbürger oder Beisitzer, von Frauenspersonen wird dieselbe
auch durch die Heirath erworben.
Die Ausführung des Verklagten, daß die Frau hiernach ihr Geburts-Heimathrecht nur dann
gegen das Heimathrecht des Mannes vertausche, wenn sie in die Gemeinde des Mannes überziehe,
ist verfehlt. Die grammatische Auslegung führt nicht mit Nothwendigkeit dahin, die Eingangsworte
des §. 16 auch auf den Schlußsatz zu beziehen; jedenfalls ist nicht vorauszusetzen, daß die Gemeinde-
ordnung, entgegen allgemeinen Rechtsprinziplen für gewisse Fälle ein von dem Heimathrechte des
Mannes verschiedenes Heimathrecht der Frau habe zulassen wollen. Auch die Bezugnahme des Ver-
klagten auf das kurhessische Staatsministerial-Ausschreiben vom 20. November 1825 ist nicht zutreffend.
Position 2 daselbst heißt es, daß
im Fall ein zur gerichtlichen Ehe-Anzeige verpflichteter Inländer ohne die Bescheinigung
des — — — Stadtraths oder beziehungsweise des Kreisamts über seine Erwerbfähig-
keit — — im Auslande sich verheirathet, ein Heimathrecht der angetrauten Ausländerin
und der von ihr gebornen Kinder in den hiesigen Landen nicht erlangt werden
soll, sofern nicht etwa nachträglich dem vernachlässigten Erfordernisse würde genügt
werden.
Allein diese Bestimmung ist durch das Bundesgesetz vom 4. Mai 1868 über
die Aufhebung der polizeilichen Beschränkungen der Eheschließungen aufgehoben.
Das Heimathsrecht des etc. N. N. und seiner Ehefrau in Hainrode ging am 1. Juli 1871 in
den Unterstützungswohnsitz daselbst über (s. 65 Nr. 1 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870). Der
verklagte Orts-Armenverband ist deshalb zum Ersatz der von dem Kläger für die Frau N. N. ver-
wendeten Unterstützungsgelder verpflichtet, da durch die Beweisaufnahme, wie der erste Richter mit
Recht annimmt, die Hulfsbedürftigkelt der etc. N. N. dargethan ist. So lange diese Hülfsbedürftig-
keit dauert, ist Kläger verpflichtet, die Unterstützung in den gesetzlichen Grenzen zu leisten und Ver-
klagter muß die desfallsigen, in separato zu ermittelnden Ausgaben erstatten.