200 Buch I. Abschnitt 5. Rechtsgeschäfte.
Formel am meisten entsprechen: eine Erklärung ist ihrer Adresse zugegangen,
wenn sie dem Adressaten in verkehrsüblicher Art zu sofortiger Kenntnisnahme
nahegebracht ist; nicht nötig ist, daß der Adressat von der ihm gebotenen Ge-
legenheit, die Erklärung kennen zu lernen, tatsächlich Gebrauch macht; ja es ist
sogar unschädlich, wenn er — vielleicht ohne sein Verschulden — gar nicht
dazu imstande gewesen ist.?
Beispiele. 1. 1. A. will seinem ihm bis dahin persönlich unbekannten Vermieter B.
kündigen; er besucht deshalb den B., und dieser läßt sich auch sprechen; im Lauf des Ge-
sprächs bringt A. seine Kündigung im gewöhnlichen Sprechton vor; B. versteht sie aber
nicht, sei es, weil er schwerhörig ist, sei es, weil er nicht ordentlich aufgepaßt hat. a) Hier
ist die Kündigung ungültig, wenn A. die Schwerhöriqgkeit oder Unaufmerksamkeit B.3 er-
kannt hat oder hätte erkennen müssen. Denn nach der Verkehrssitte hätte er alsdann seinen
Sprechton über das gewöhnliche Maß steigern oder durch geeignete Gesten unterstützen sollen.
b) Dagegen ist die Kündigung gültig, wenn A. die Schwerhörigkeit oder Unaufmerksamkeit
Be.s nicht erkannt hat und nicht zu erkennen brauchte s; denn es ist durchaus verkehrsüblich,
daß A. in diesem Fall den B. so behandelt, als erfreue er sich des normalen Gehörs und
wende die normale Aufmerksamkeit an. B. hat auch keinen Anlaß, sich darüber zu be-
klagen; denn wenn er schwerhörig war oder nicht auspassen wollte, hätte er ja dem A. dies
mitteilen oder von vornherein ein Gespräch mit ihm ablehnen können. 2. C. schreit seinem
Vermieter D., als dieser in der Trambahn an ihm vorbeifährt, zu, daß er ihm hiermit
kündige; D. tut so, als habe er die Kündigung nicht gehört, während er sie in Wirklichkeit
ganz gut verstanden hat. Hier ist die Kündigung ungültig; denn es ist nicht üblich, ge-
schäftliche Erklärungen durch Anschreien eines Vorüberfahrenden abzugeben. 3. E. ruft in
der Geschäftszeit seinen Vermieter F. telephonisch an, um ihm zu kündigen; F. meldet sich
am Telephon, entfernt sich aber, als er hört, daß E. mit ihm geschäftlich verhandeln will,
stillschweigend; trotzdem gibt E. seine Kündigungserklärung ab und hört nicht einmal auf,
als er merkt, daß F. gar nicht mehr am Telephon ist. a) Hier ist die Kündigung ungültig,
wenn E. ein wesentliches Stück der Kündigungserklärung erst vorgebracht hat, nachdem er
bemerkt hat oder hätte bemerken müssen, daß F. sich entfernt hatte; denn es war dem F.
nach der Verkehrssitte nicht zuzumuten, ein telephonisches Gespräch, das ein andrer willkür-
lich mit ihm angefangen, beliebig fortzusetzen; es war also auch nicht verkehrsüblich, daß E.
in das unbesetzte Telephon weiter sprach. b) Dagegen ist die Kündigung gültig, wenn E.
mit ihr im wesentlichen fertig war, als er F.S Fortgang bemerken mußte, und nachher nur
offenbar unerhebliche Nachträge vorbrachte; denn mindestens das war dem F. zuzumuten,
daß er dem E. das Ende des Gesprächs bemerklich machte. II. 1. G. schickt seine zweinnd-
zwanzigjährige Tochter H. an seinen Vermieter J. mit der Botschaft, daß er kündige; die
H. richtet die Botschaft auch ordentlich aus; J. antwortet aber, daß er eine Kündigung durch
einen Boten nicht als gültig anerkenne. Hier ist die Kündigung ungültig; denn es ist nicht
verkehrsüblich, sie mündlich durch einen Boten bestellen zu lassen. 2. K. telephoniert seinem
Vermieter L., daß er ihm kündige; am Telephon meldet sich nicht L. persönlich, sondern
dessen Dienstmädchen M., nimmt die Kündigung entgegen, richtet sie aber dem L. nicht aus.
Hier ist die Kündigung gleichfalls ungültig; denn es ist nicht verkehrsüblich, sie mündlich
an einen Dienstboten des Adressaten auszurichten.“ Anders würde der Fall liegen, wenn
es sich um eine geschäftliche Mitteilung an einen Kaufmann handelt und am Telephon ein
Angestellter des Kaufmanns erschiene. III. 1. N. schickt seinem Vermieter O. eine Kündi-
gung mittels gewöhnlichen Postbriefs zu; der Briefbote legt den Brief am 1. April um
5 Uhr nachmittags in den Privatbriefkasten O.s. Hier wird die Kündigung sofort wirksam;
denn das Einlegen eines Briefs in den Privatbriefkasten des Adressaten ist — von be-
sondern Fällen abgesehn — die allgemein übliche Art der Ablieserung des Briefs zu so-
2) RG. 60 S. 338. 3) Abw. Planck Anm. 2 zu § 130.
4) Vgl. RG. 60 S. 337. 5) Siehe RG. 61 S. 125.