8 69. Zugang empfangsbedürftiger Willenserklärungen. 201
fortiger Kenntnisnahme. So auch dann, wenn O. gerade ausgegangen ist und den Brief erst
vorfindet, als er nachts um 2 Uhr heimkehrt. Ebenso auch dann, wenn O. schwer krank ist
und Geschäftsbriefe erst lesen darf und auch tatsächlich erst liest, nachdem eine Woche später
seine Krankheit nachgelassen hat (s. übrigens auch oben die Beispiele S. 178 II). So endlich
auch dann, wenn der Brief N.s, gleich nachdem er in den Briefkasten O.s gelegt war, von
einem Vorübergehenden gestohlen wird und dem O. nie zu Gesicht kommt. 2. Derselbe Fall
wie zu 1; nur ist der Brief eingeschrieben; als der Briesbote ihn abliefern will, ist weder
O. noch einer seiner erwachsnen Familienangehörigen zu Hause; der Bote ist also nach der
Postordnung zur Ablieferung des Briefs nicht befugt, nimmt ihn demgemäß wieder mit und
liefert ihn erst am folgenden Tage ab. Hier ist die Kündigung gleichfalls sofort (am 1. April
5 Uhr) wirksam geworden; denn die Kündigung durch Einschreibebrief ist durchaus ver-
kehrsüblich; jeder, der eine Kündigung zu gewärtigen hat, muß demnach auch auf den Ein-
gang eines Einschreibebriefs gefaßt sein; es geht also auf Gefahr des O., wenn bei Eingang
des Briefs während der üblichen Geschäftszeit weder er selbst noch einer seiner erwachsnen
Familienangehörigen anwesend ist und der Brief deshalb nicht abgeliefert werden kann.“
3. Derselbe Fall wie zu 1; nur findet die Einlegung des Briefs in den Kasten des O. durch
einen Eilboten nachts um 3 Uhr statt. Hier wird die Kündigung nicht sofort, sondern erst
am folgenden Morgen wirksam; denn es ist durchaus nicht verkehrsüblich, geschäftliche Mit-
teilungen zu sofortiger Kenntnisnahme mitten in der Nacht abzuliefern. 4. Derselbe Fall
wie zu 1; nur wird der Brief N.8 in das Fach gelegt, das O. sich auf der Post hat ein-
richten lassen. Hier wird die Kündigung gleichfalls nicht sofort wirksam; denn auch die Ein-
legung eines Briefs in das Postfach des Empfängers dient verkehrsüblich nicht zur sofortigen
Kenntnisnahme; die Wirksamkeit beginnt vielmehr erst, wenn der Empsänger den Brief ab-
holen läßt oder nach der Verkehrssitte hätte abholen sollen." 5. Derselbe Fall wie zu 1;
nur hat der Postbote den Brief nicht in O.S Briefkasten gelegt, sondern der ihm auf der
Straße begegnenden Ehefrau O.s ausgehändigt; diese hat den Brief geöffnet und gelesen,
aber ihrem Mann nicht abgeliefert. Hier ist die Kündigung für immer unwirksam; denn
die Ablieferung eines Briefs an die Ehefrau des Adressaten ist nur üblich, wenn sie in
dessen Hause, nicht aber auch, wenn sie auf der Straße geschieht.
Wird eine Erklärung dem Adressaten in unüblicher Weise nahegebracht, so ist sie
nichtig, und es braucht also nicht bloß der Adressat, sondern auch der Erklärende selbst die
Erklärung nicht gelten zu lassen. Doch ist die Nichtigkeit heilbar; die Heilung geschieht da-
durch, daß der Adressat die Erklärung als eine ihm zugegangne anerkennt. Es wird hierfür
eine stille Willensäußerung des Adressaten innerhalb einer den Umständen angemessnen Frist
genügen (nach Analogie von 151; siehe unten S. 206, 208). Freilich ist im Gesetz über dies
schwierige Problem nichts bestimmt. — Beispiel. A. hat seinem Vermieter B., obschon er
wußte, daß dieser schwerhörig war, mit ganz leiser Stimme für sofort gekündigt; B. hat die
Kündigung nicht verstanden, erfährt sie aber nachträglich von seiner Frau, die vom Neben-
zimmer aus die Worte A.3 gehört hat; er läßt darauf einen Zettel am Hause mit der Auf-
schrift anbringen: „Hier ist eine Wohnung auf sofort zu vermieten“. Damit hat er die
nichtige Kündigung A.s gültig gemacht.
Bemerkenswert ist, daß das BGB. das Erfordernis des Zugangs der empfangsbedürf-
tigen Willenserklärungen nur für Erklärungen aufstellt, die gegenüber einem Abwesenden
abgegeben werden (130 1). Daraus folgern manche, daß bei einer Erklärung gegenüber
einem Anwesenden der bloße Zugang nicht genüge, sondern daß hier die Erklärung zur
Kenntnis des Adressaten gekommen sein muß!“
Die vom BGB. angenommene Theorie, daß eine empfangsbedürftige Willenserklärung
schon dann wirksam wird, wenn sie dem Adressaten zugegangen ist, und nicht erst dann,
wenn er Kenntnis von ihr erlangt hat, wird als Empfangstheorie bezeichnet.
6) Siehe einerseits RG. 58 S. 408, andrerseits RG. 56 S. 264.
7) Siehe Rathenau, D. Jurztg. 02 S. 147.
8) Planck Anm. 2 zu § 130; Endemann 1 8§ 6627.