Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

§ 3. Geschichtliche Entwicklung des d. bürgerl. Rechts. 5 
Gesamtheit seiner Rechtsverhältnisse, aber doch einen besonders wichtigen Teil 
seines Vermögensrechts umfaßte, das „Lehnrecht“. Endlich erwuchs für die 
Städte ein „Stadtrecht“. 
Numehr war das anfangs einheitliche Volksrecht gänzlich in Standes= oder Klassen- 
rechte aufgelöst. Ein großer Vorteil für die deutsche Rechtsentwicklung! Denn die einzelnen 
Volksklassen waren nun einmal tatsächlich durch ihre gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und 
staatsbürgerlichen Verhältnisse schroff voneinander getrennt, so daß sie der nämlichen Rechts- 
schablone unmöglich unterworfen werden konnten. Entweder mußte also die Verschiedenheit 
der tatsächlichen Verhältnisse abgeschwächt werden, und dazu war das Mittelalter nicht ent- 
fernt imstande, oder aber es galt, ihnen durch Ausbildung gesonderter Standesrechte Rechnung 
zu tragen. Daß letzteres geschehn, hat es möglich gemacht, daß die Städte — dem Fortschritt 
ihrer politischen und wirtschaftlichen Zustände gemäß — das bürgerliche Recht freier und 
elastischer gestalten konnten als das flache Land. Dem Stadtrecht fiel in der Fortbildung 
des deutschen Rechts fortab die Führerrolle zu. 
IV. Das deutsche Recht ist seit jeher örtlich zersplittert gewesen. Erklärlich 
genug, da die deutschen Völker sich zu einer Zeit, da ihr Rechtsleben noch auf 
einer geringen Stufe stand, voneinander staatlich getrennt hatten und seitdem 
in ihrer Rechtsbildung gesonderte Wege gegangen waren. So kam es, daß nicht 
bloß die großen Stämme, sondern daß sogar manche kleine Gaue ihr Sonder- 
recht besaßen. Da trat dank den Eroberungen der Merowinger und Karolinger 
die staatliche Vereinigung der großen Mehrzahl aller deutschen Völker zu einem 
Reich ein. Man hätte erwarten können, daß nunmehr das Ende der Rechts- 
zersplitterung gekommen wäre. Allein dem neuen Reich fehlte für die Fort- 
bildung des bürgerlichen Rechts und also auch für dessen einheitliche Ausge- 
staltung ein wirksames Zentralorgan. War doch von einer selbständigen bürger- 
lichen Gesetzgebung des Reichs kaum jemals die Rede. Eher hätte die Gerichts- 
barkeit des Königsgerichts eine Verschmelzung der verschiedenen deutschen Rechte 
fördern können; allein sie ist zu ungleichmäßig geübt worden, als daß sie hätte 
dauernde Frucht tragen können. So konnte die Rechtszersplitterung im Lauf 
des Mittelalters statt abzunehmen sogar noch weitere Fortschritte machen. Denn 
die Staatsbildung ging seit der Stauferzeit immer mehr ins kleine, und die 
Gerichte jedes Kleinstaats schlugen ohne Rücksicht auf die Rechtsprechung der 
Nachbargerichte ihre eignen Wege ein. 
Nur die Städte vereinigten sich zum Teil zu größeren Rechtsprovinzen mit einer 
Hauptstadt, deren Recht für die andern zu der Provinz gehörigen Städte mehr oder minder 
maßgebend war und deren Gericht als „Oberhof“ der ganzen Provinz diente; so konnte man 
von einer Provinz Magdeburg oder Lübeck reden. Auch das flache Land hatte wenigstens 
im Nordosten Deutschlands eine schwache Rechtseinigung gefunden, soweit als das Ansehen 
des Sachsenspiegels reichte, d. h. im Gebiet des alten ostfälischen Landes und dem von 
diesem abhängigen Kolonisationsgebiet. Dagegen reichte die Rechtseinheit im übrigen bloß 
soweit wie die Grenzen der neuen Kleinstaaten. 
Beispiele der Rechtszersplitterung aus merowingisch-karolingischer Zeit: I. Bei den 
Franken fiel der bewegliche Nachlaß des Vaters an Sohn und Tochter, bei den Sachsen nur 
an den Sohn. II. Bei den ostfälischen und engrischen Sachsen siel die ganze eheliche Errungen- 
schaft an den Ehemann, bei den westfälischen Sachsen an beide Eheleute je zur Hälfte. 
V. Wie jedes Gewohnheitsrecht hatte auch das deutsche Recht seine Regeln 
immer nur soweit festgestellt, als dafür ein praktisches Bedürfnis vorhanden
	        
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