Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

8 62a. Wuchergeschäfte. 247 
ständen nach die Vermögensvorteile in auffälligem Mißverhältnis zu der 
Leistung stehn. 
b) Für den Begriff des Wuchergeschäfts ist ein objektives und ein sub— 
jektives Moment charakteristisch. Ein objektives Moment: der Wert der Ver- 
mögensvorteile, die die eine Partei der andern Partei oder einem Dritten 10 
verspricht oder gewährt, muß den Wert der Gegenleistung, die jene Partei dafür 
empfangen soll oder empfangen hat, „auffällig“ übersteigen; und zwar ist bei 
dem Vergleich der beiden Werte nicht ein starrer Tarif — etwa der jeweilig 
herrschende Zinsfuß, der jeweilig herrschende Marktpreis — entscheidend, sondern 
es kommt lediglich auf die Umstände des Einzelfalls an. Ein sudjektives 
Moment: die Partei, die sich oder einem Dritten übermäßige Vermögensvorteile 
versprechen oder gewähren läßt, muß ebendadurch die Notlage, den Leichtsinn 
oder die Unerfahrenheit der andern Partei ausbeuten; wer also etwa aus Be- 
quemlichkeit oder aus Großmut oder aus Prahlerei oder auf Grund einer 
Spekulation, die vielleicht unrichtig, aber doch nicht leichtsinnig ist, der Gegen- 
partei für eine geringe Leistung ein übertriebenes Entgelt gewährt, darf nicht 
sagen, daß er bewuchert sei. 
c) Am häufigsten kommen wucherische Abreden bei Kreditgeschäften vor, 
indem der Kreditempfänger für den ihm gewährten Kredit dem Kreditgeber 
übermäßige Zinsen zahlen oder sonstige übermäßige Vermögensopfer bringen 
muß (Kreditwucher). Doch kommen auch Wuchergeschäfte ohne Kredit- 
gewährung vor, namentlich Barverkäufe zu wucherisch hohen, Barkäufe zu 
wucherisch geringen Preisen (Sachwucher). 
d) Wucher liegt nicht bloß vor, wenn der Wucherer sich die übermäßige 
Gegenleistung vertragsmäßig ausbedingt, sondern auch dann, wenn er sie als 
freiwillige Gabe der Gegenpartei annimmt. Doch muß der Empfänger wenigstens 
einen tatsächlichen Druck auf die Gegenpartei ausgeübt haben; denn nur dann 
hat er die Schwächen der Gegenpartei „ausgebeutet"“. 
Beispiele. I. 1. A. gibt dem B. gegen eine ausgezeichnete hypothekarische Sicherheit 
ein Darlehn und benutzt die kindliche Unerfahrenheit des B. dazu, sich eine Verzinsung von 
6 % auszubedingen, während B. für diese Sicherheit überall ein Darlehn zu 4 % bekommen 
könnte. 2. C. leiht dem vermögenslosen D. ohne Sicherheit eine Geldsumme zu 12 %, weil 
dieser das Geld zu einer gewagten Spekulation braucht, die ihm, wenn sie glückt, 20 % 
Gewinn bringen würde. Hier ist das erste Darlehn zu 6 % wucherisch, das zweite zu 12% 
ist es nicht; denn dort sind die 6 % eine übermäßige, hier sind die 12 % eine ganz ange- 
messene Kreditvergütung. II. 1. Der Musiklehrer E. überläßt seiner eben volljährig ge- 
wordenen ausländischen Schülerin F. ein ihm geschenktes Billet zur Oper für 20 Mk., indem 
er so tut, als ob er der F. damit eine Gefälligkeit erweise, während die F. ein gleich gutes 
Billet an der Kasse für 10 Mk. bekommen kann. 2. Der Agent G. kauft die letzten 20 Billets 
zu einer Opernvorstellung an der Kasse für 120 Mk. und veräußert sie an einige Gasthaus- 
portiers für 360 Mk. Hier ist das erste Geschäft Wucher, das zweite ist es nicht; denn dort 
hat F. die Unerfahrenheit seiner Schülerin ausgebeutet, während hier G. weder mit not- 
leidenden noch mit leichtsinnigen noch mit unerfahrenen Kunden zu tun hat. III. Es ist 
Wucher, wenn ein Wirt, dessen Gasthaus von andern Herbergen meilenweit entfernt liegt, 
10) Re. 60 S. 11.
	        
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