Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

§ 63. Auslegung der Rechtsgeschäfte. 251 
II. 1. Diese allein den gewöhnlichen Sprachgebrauch berücksichtigende Art 
der Auslegung ist aber nur so lange anwendbar, als sich nicht Zweifel darüber 
aufdrängen, ob man durch sie den wirklichen Willen des Urhebers der 
Außerung erfährt. Dagegen ist, sobald ein solcher Zweifel auftaucht, die Aus- 
legung zu vertiefen und zu erweitern. Es ist nämlich alsdann die auszu- 
legende Willensäußerung zugleich im Zusammenhang mit den begleitenden 
Nebenumständen ins Auge zu fassen.3 Vor allem ist die Willensäußerung 
als ein Ganzes zu betrachten und danach jedes Stück der Außerung mit zur 
Erläuterung der übrigen Stücke zu verwenden. Sodann ist die Verkehrssitte, 
die sich bei gleichartigen Geschäften entwickelt hat, aufs genaueste zu beachten, 
da man annehmen darf, daß jemand, der von der allgemeinen Sitte abweichen 
will, dies unzweideutig ausgesprochen haben würde, andernfalls aber sich still- 
schweigend dem zu fügen gedenkt, was Sitte ist. Ferner ist der Zweck, den 
das Rechtsgeschäft erkennbar verfolgt, es ist der besondre Sprach= oder sonstige 
Außerungsgebrauch des Urhebers der Außerung, es sind die Vorverhandlungen, 
die der Außerung vorausgingen, zu berücksichtigen usp. Gibt man auf alle 
diese Nebenumstände acht, so kann man schließlich oft genug mit voller Sicher- 
heit einen Sinn der Außerung feststellen, der von dem Sinn weit abweicht, 
der bei ausschließlicher Berücksichtigung des gewöhnlichen Außerungsgebrauchs 
jener Außerung beigelegt werden müßte, und es ist alsdann lediglich dieser 
durch „freie“ Auslegung ermittelte Sinn der Außerung maßgebend (s. 133, 157). 
Beispiele. I. A., B. und C. haben einen Gesellschaftsvertrag abgeschlossen wie folgt: 
„alle drei Gesellschafter schießen ein Kapital von je 20000 Mk. zwecks Betriebes einer Gast- 
wirtschaft auf gemeinsame Rechnung ein; die Geschäftsführung steht nur dem A. und dem B. 
zu; von dem Gewinn erhalten A. und B. je 6000 Mk. vorweg: der Rest wird nach Köpfen 
verteilt“; ein Jahr später wird dieser Vertrag dahin geändert, daß A. alleiniger Geschäfts- 
führer sein soll. Hier ist im ersten Vertrage die Klausel: „von dem Gewinn erhalten A. 
und B. je 6000 Mk. vorweg“ zwar nicht nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, aber doch 
wegen des Zusammenhangs mit dem übrigen Vertragsinhalt dahin auszulegen, daß dies 
Voraus beiden nur als Geschäftsführern der Gesellschaft gebührt. Ergebnis: B. büßt, so- 
bald der zweite Vertrag in Kraft tritt, mit der Geschäftsführung zugleich das Recht auf den 
Voraus ein. II. C. hat den zu seinem Hause gehörigen Garten an D. verkauft, jedoch „sich 
und seinen Kindern“ den freien Durchgang durch den Garten vorbehalten; er hat aber keine 
leiblichen Kinder, sondern nur zwei Pflegesöhne. Hier ist die auf den Durchgang bezügliche 
Klausel, dem gewöhnlichen Sprachgebrauch entgegen, mit Rücksicht auf diesen Sachverhalt 
dahin auszulegen, daß unter den „Kindern“ C.3 eben jene Pflegesöhne zu verstehn sind. 
III. E. gibt nach längern Verhandlungen, die er mit F. mündlich über einen Kauf gepflogen, 
auf einen Antrag F.s die Schlußerklärung ab: „damit bin ich eventuell einverstanden“; wie 
F. weiß, ist „eventuell“ das Lieblingswort E.s und wird von ihm ohne besondern Sinn 
angewendet. Hier ist die Erklärung E.s, dem gewöhnlichen Sprachgebrauch entgegen, als 
eine unbeschränkte, vorbehaltlose Annahme des Antrages des F. anzusehn, und zwar selbst 
dann, wenn E. gerade in diesem Fall das Wort „eventuell“ ausnahmsweise nicht als 
Flickwort, sondern im Sinn irgend eines Vorbehalts angewendet haben sollte. IV. G. enga- 
giert die H. als Köchin und sagt ihr dabei: „Ihr Lohn ist 30 Mk. monatlich und zu 
Weihnacht 15 Mk.; weiter haben Sie aber nichts zu beanspruchen; merken Sie sich das!“ 
Hier kann die H., dem klaren Wortlaut der Vereinbarung entgegen, der allgemeinen Ver- 
3) NWG. 66 S. 429.
	        
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