Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

4. Geschichtliche Entwicklung des d. bürgerl. Rechts. 9 
Eingehung einer vollwirksamen Ehe ziemlich rasch fallen lassen mußte und daß auch sonst 
die dem Mittelalter eigne ständische Gliederung des Rechts abgeschwächt wurde. 
2. Andrerseits hat aber die Rezeption die Entwicklung des deutschen Rechts 
auch schwer geschädigt. Erstlich ist das römische Recht auch nach der Rezeption 
ein fremdes Recht für uns geblieben, fremd durch die nur den Gelehrten ver- 
ständliche Sprache seiner Quellen, fremd durch die fortwährende Bezugnahme 
der Quellen auf die römischen Sklaven Stichus und Pamphilus, auf die in- 
sulae der Stadt Rom u. dgl. So ward durch die Rezeption eine Kluft ge- 
öffnet zwischen der Rechtsordnung und dem Volk, dem allein zu dienen die 
Rechtsordnung bestimmt ist. Das Volk geriet geradezu unter die Herrschaft 
der Juristenzunft als der einzigen Kennerin und Hüterin des römischen Rechts, 
unter eine echte Fremdherrschaft. Der Juristenzunft mag dies freilich zeitweise 
eine Freude gewesen sein. Aber sie hat ihre Herrscherstellung damit büßen 
müssen, daß sie in weiten Kreisen des Volks der Gegenstand tiefer Abneigung 
geworden ist. Und auch an sich selbst hat sie schweren Schaden erlitten: durch 
die Rezeption ist den Juristen der Einblick in das, was für sie die Haupt- 
sache sein soll, das praktische Rechtsleben, künstlich erschwert und ihr praktischer 
Instinkt irregeleitet worden, indem die römischen Quellen ihnen das geltende 
Recht eng verquickt mit veralteten Lebensverhältnissen vorführten. Zweitens 
war, was den materiellen Inhalt des Rechts betrifft, die Uberlegenheit des 
römischen Rechts gegenüber dem deutschen keineswegs eine allgemeine, sondern 
es gab zahlreiche Rechtsinstitute, die im deutschen Recht besser geordnet gewesen 
waren als im römischen: indem auch hier das römische Recht kritiklos dem 
deutschen vorgezogen wurde, ist der heimische Rechtszustand, statt eine Besserung 
zu erfahren, materiell geradezu verschlechtert worden. 
Als Beispiel diene das ganze Recht der Liegenschaften, das ganze Familienrecht, das 
Institut der gesamten Hand, die reine (unmittelbare) Stellvertretung, die Negel „wo du 
deinen Glauben gelassen hast, mußt du ihn wieder suchen“, die Regel „Kauf bricht nicht 
Miete“, die Regel, daß die Gefahr der gekauften Sache erst mit der Ubergabe auf den Käufer 
übergeht, das gesetzliche Erbrecht. 
Man übersehe nicht, daß, wenn wenn wir in dieser Art römisches und deutsches Recht 
vergleichen und dabei in wichtigen Beziehungen das deutsche Recht dem römischen vorziehn, 
damit ein Tadel gegen das römische Recht schlechterdings nicht ausgesprochen werden soll. 
Ein solcher Tadel läge in unserem Urteil nur, wenn es wahr wäre, daß die Römer ihr Recht 
für die ganze Welt erdacht hätten.? In Wahrheit ist aber der stolze Bau des römischen 
Rechts ein nationales und antikes Werk; er ist geschaffen für die Römer, für das Altertum. 
So verstanden, zwingt er uns zu rückhaltloser Bewunderung. So verstanden, verdient er 
auch unbedingten Vorzug vor dem deutschen Recht; denn dieses hat für das deutsche Volk 
und die Zeiten des Mittelalters nicht entsernt das gleiche geleistet wie das römische Recht 
für das römische Volk und die Zeiten der Antike. Das alles ist hier aber nicht in Frage. 
In Frage ist nur, ob das Werk der Römer für die Deutschen, ob das Werk der Antike für 
das 15. Jahrhundert und die Folgezeit passend war. Auch sei nochmals betont, daß wir hier 
nicht von der Methode und der Technik der Römer, sondern nur von dem Inhalt der 
römischen Rechtsregeln sprechen. 
2) Siehe Zitelmann 1 S. 13.
	        
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