§ 63. Auslegung der Rechtsgeschäfte. 255
gewesen wäre. Trotzdem kommt es auf C.# mutmaßlichen Willen in diesem Fall nicht an;
denn es lag bei der Hingabe des Darlehns in D.s Interesse, daß C. ihm die lange Un-
kündbarkeit ohne Einschränkung zugestand, und er kann an diesem Zugeständnis, das dem
damaligen wirklichen Willen C.s entsprach, festhalten, auch wenn es dem Willen, den C. bei
besserer überlegung mutmaßlich gefaßt haben würde, durchaus zuwider war.
IV. Bleibt es bei Anwendung aller drei bisher besprochenen Auslegungs-
arten zweifelhaft, was eine Partei mit einer rechtsgeschäftlichen Willensäußerung
wirklich oder mutmaßlich hat bestimmen wollen, so ist in letzter Reihe auf
gewisse Sonderregeln zurückzugehn, die das Gesetz gerade für Fälle dieser Art
aufgestellt hat. Fehlt es auch an einer solchen Sonderregel, so ist das Ge-
schäft ganz oder teilweise unwirksam.
Beispiele. I. A. hat sein Gasthaus an B. verkauft, ohne dabei des Inventars zu ge-
denken. Hier ist zunächst auf alle Nebenumstände des Falls Rücksicht zu nehmen: Hat B.
das Inventar mitbesichtigt, als er sich das Gasthaus ansah? Ist der Preis, den B. zu zahlen
hat, so hoch, daß er offenbar auch eine Vergütung für das Inventar darstellt, oder ist das
Gegenteil der Fall? Hat A. gewußt, daß B. ein eignes vollständiges Inventar besaß, oder
war es dem B. bekannt, daß A. ein neues Gasthaus eröffnen und sein altes Inventar in
ihm verwenden wollte usw.? Ergibt die Prüfung aller dieser Umstände kein sicheres Er-
gebnis, so greift folgende gesetzliche Sonderregel ein: „im Zweifel“ gilt das Gasthaus-
inventar als mitverkauft (314). II. C., der mehrere Hypotheken an den Grundstücken D.S
besitzt, will sie sämtlich kündigen, verschreibt sich aber bei der Kündigung und spricht nur
von seiner Hypothek im Singular. Hier ist zunächst zuzusehn, ob D. nicht aus den mit
C. geführten Vorverhandlungen erkennen konnte, wie C. die Kündigung verstanden hatte.
Bleibt diese Prüfung ergebnislos, so ist C.s Kündigung ohne alle Wirkung.
V. Alle Regeln, die wir über die Auslegung der Rechtsgeschäfte festgestellt haben,
gelten aber nur für Rechtsgeschäfte und gewisse ihnen ähnliche Rechtshandlungen (oben
S. 1555). Daraus wird von manchen der Satz abgeleitet, daß, wenn es zweiselhaft ist, ob
ein gewisser Tatbestand ein Rechtsgeschäft oder eine rechtsgeschäftliche Rechtshandlung dar-
stellt, diese Vorfrage unabhängig von jenen Regeln entschieden werden müsse.“ Doch ist
dieser Schluß hinfällig. Denn recht verstanden setzt der Begriff „Rechtsgeschäft“ wieder die
Anwendung der juristischen Auslegungsregeln voraus (s. oben S. 151, I, 1a). — Beispiel.
A., der eben Mitglied eines eingetragenen Vereins geworden ist, wird ordnungsmäßig zu
einer Mitgliederversammlung in den „Goldnen Stern“ eingeladen, will sich aber an der
Versammlung nicht beteiligen; trotzdem gerät er durch einen Zufall hinein und zwar gerade
in dem Augenblick, in dem der Vorsitzende B. erklärt: „wir schreiten zur Abstimmung: wer
für den Antrag ist, stehe auf oder bleibe stehn“; A. hört diese Erklärung, läßt sie aber un-
beachtet, weil er gar nicht daran denkt, daß es sich um eine Mitgliederversammlung und
sogar eine solche seines eignen Vereins handelt, und tritt zu den abstimmenden Herrn, um
sie zu begrüßen; B. zählt ihn deshalb als zustimmend. Hier ist B. im Recht. Denn er
mußte nach allen Auslegungsregeln annehmen, daß A. dem Antrage zustimmen wollte, und
das genügt. Die Folgen mag A. verantworten. Hätte er aufsgepaßt, so hätte er keinen
Zweisel darüber haben können, daß das, was ihm eine Handlung unjuristischer Art erschien,
von andern als ein Rechtsgeschäft gedeutet werden würde.
6) Manigk S. 178.