Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

256 Buch I. Abschnitt 5. Rechtsgeschäfte. 
13. Willensmängel. 
a) Simulation. Irrtum. Unrichtige Übermittlung. 
6 64. 
Aus den im vorigen Paragraphen entwickelten Auslegungsregeln ergibt 
sich, daß unser Gesetz nicht darauf ausgeht, den wahren und wirklichen Willen, 
der den rechtsgeschäftlichen Außerungen der Parteien zugrunde liegt, zu er- 
mitteln, um ihn dann zum Herrn des rechtsgeschäftlichen Lebens zu machen. 
Und zwar vermeidet das Gesetz dies Ziel nicht etwa ungern oder mit innerem 
Bedauern, weil es den wahren Parteiwillen als einen unsichtbaren, unhörbaren, 
rein seelischen Vorgang nicht zu erfassen vermag — in der Art, wie man es 
aufgibt, ein Ideal zu erreichen, weil man sich seiner eignen Unvollkommenheit 
gar zu sehr bewußt ist. Vielmehr verzichtet das Gesetz auf die Erforschung 
des inneren Parteiwillens auch in solchen Fällen, in denen es an Mitteln zu 
dessen Erkenntnis keineswegs gebricht; denn es verwirft ja bei der Auslegung 
einer empfangsbedürstigen Erklärung die Berücksichtigung aller Nebenumstände, 
die für den Empfänger der Erklärung nicht erkennbar waren, mögen sie auch 
durch Zeugnis dritter Personen aufs deutlichste festgestellt werden können. 
Das Gesetz ist eben unparteiisch; bei der Würdigung der rechtsgeschäftlichen 
Willensäußerungen denkt es nicht bloß an den Urheber, sondern auch an die 
andern Personen, die durch die Außerungen betroffen werden sollen, und be- 
stimmt demgemäß: nicht was die Partei in ihrem Innern will, sondern nur, 
was aus ihrem äußeren Verhalten, für die andern Beteiligten erkennbar, als 
ihr Wille hervortritt, soll Geltung haben. So kann es geschehn, daß eine 
rechtsgeschäftliche Willensäußerung ohne alle Wirkung bleibt, weil sie den 
Willen des Urhebers gar nicht oder nur undeutlich erkennbar macht, oder daß 
sie eine Wirkung allerdings ausübt, aber eine ganz andre, als ihr Urheber 
wollte, indem seine Außerung in einem andern Sinn verstanden wird, als er 
selber sie gemeint hat; hier führt also die dem Gesetz entsprechende Auslegung 
der Willensäußerung absichtlich und bewußt zu einer Anderung oder, wenn 
man es noch schroffer ausdrücken will, zu einer Fälschung ihres Inhalts. Das 
Gesetz stellt als leitende Regel auf: „nicht ein Mann, ein Wille“, sondern 
„ein Mann, ein Wort“. Jeder mag sein Wort so einrichten, daß es seinen 
wahren Willen kundtut; versäumt er dies, so muß er eben wider Willen beim 
Worte bleiben. Doch führt unser Gesetz diese seine Regel nicht in ihrer vollen 
Reinheit durch; vielmehr erklärt es in gewissen alsbald näher zu besprechenden 
Fällen ein Rechtsgeschäft wegen mangelnden Willens einer Partei entweder 
1) Muskat bei Gruchot 42 S. 769; Türk, ebenda 43 S. 549; Gradenwitz, Ansechtung 
u. Reurecht beim Irrtum (02); Leist, Arch. f. ziv. Pr. 102 S. 215; Lippmann, ebenda 
S. 283; Leonhard, Irrtum als Ursache nichtiger Verträge 2. Aufl. (07); Melliger, culpa 
in contrahendo (98); Schloßmann, Irrtum über wesentliche Eigenschaften (03).
	        
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