Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

270 Buch I. Abschnitt 5. Rechtsgeschäfte. 
b) Täuschung. Bedrohung. 
§ 65. 
Das Gesetz durchbricht die Regel „ein Mann, ein Wort" noch durch eine 
zweite Ausnahme. Es gestattet nämlich den Rücktritt vom Wort nicht bloß in 
den bisher dargestellten Fällen, in denen das Wort nach Form, Sinn oder 
Inhalt von dem wahren Willen des Sprechers wesentlich abwich, sondern auch 
dann, wenn sich Wort und Wille im wesentlichen decken, der Wille aber in 
einer vom Gesetz mißbilligten Weise durch Täuschung oder Bedrohung hervor- 
gerufen ist. Anders ausgedrückt: in den bisher erörterten Fällen hat der 
Sprecher das, was er gesagt, nicht gewollt; er war allerdings nicht ohne allen 
Willen, aber das, was er wollte, war von dem, was er sagte, wesentlich ver- 
schieden; in den Fällen, die nunmehr zu erörtern sind, hat der Sprecher 
dagegen gerade das, was er sagte, gewollt, oder es sind doch nur unwesent- 
liche Unterschiede zwischen seinem Wollen und seinem Sprechen; aber er würde 
das, was er gesagt hat, nicht gewollt haben, wenn er nicht getäuscht oder be- 
droht worden wäre. 
I. Anfechtbar ist erstlich ein Rechtsgeschäft, wenn eine bei dem Geschäfts- 
abschluß beteiligte Partei zur Abgabe ihrer Willensäußerung durch arglistige 
Täuschung bestimmt ist (123). „ 
1. a) Die Partei muß „getäuscht“, d. h. in einen Irrtum versetzt 
sein. Somit nähert sich die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung der An- 
fechtung wegen Irrtums. Indes sind die Grenzen der ersteren Anfechtung 
weiter abgesteckt als die der letzteren. Freilich, daß der Irrtum der getäuschten 
Partei „erheblich" gewesen ist, wird auch hier gefordert; denn der Irrende 
muß ja durch die Täuschung zum Geschäftsabschluß „bestimmt“ worden sein; 
es muß also feststehn, daß der Irrende bei richtiger Kenntnis der Sachlage das 
Rechtsgeschäft nicht abgeschlossen haben würde. Aber die Erheblichkeit des 
Irrtums wird hier nicht nach objektiver Verkehrsanschauung, sondern nach 
dem höchstpersönlichen, subjektiven Denken des Irrenden bemessen. Deshalb 
reicht namentlich auch ein Irrtum über unwesentliche Eigenschaften von Sachen 
oder Personen oder auch ein Irrtum über sonstige Voraussetzungen des Rechts- 
geschäfts zur Anfechtung aus. 
Beispiele. I. Ein Gärtner zeigt dem A. eine Rose mit dem Bemerken, man nenne die 
Rose „Madame Belladonna“; tatsächlich hat aber der Gärtner den Namen sich soeben selber 
ausgedacht; A. glaubt es und kauft die Rose. II. B sieht sich eine Mietswohnung an; er 
hat nur das Bedenken, daß die Gegend der Wohnung unfein sei; da lügt ihm der Ver- 
mieter vor, in der Wohnung habe früher einmal ein Prinz gewohnt; B. glaubt es und 
mietet nunmehr. III. C. kauft von D. ein Fahrrad, weil D. behauptet. das Rad wiege nur 
1) RG. 59 S. 92, 94, 351; 62 S. 185; 63 S. 269; 65 S. 89.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.