§ 66. Aktive und passive Stellvertretung. 277
6) Eine Ausnahme greift Platz, wenn eine der Parteien an der Ent-
scheidung der Frage ein Interesse hat, während die Frage für die andre Partei
gleichgültig ist: die Frage ist alsdann im Sinn der interessierten Partei zu
entscheiden, auch wenn deren Ansicht für die nicht interessierte Partei uner-
kennbar war.
Beispiele. Man wandle die oben S. 275 genannten Beispiele derart um, daß aus der
aktiven eine passive Stellvertretung wird. I. Der Reisende C. ersucht den Kellner A. um
Zuweisung eines Zimmers im Haupthause; dieser lehnt das ab, bietet dagegen dem C. ein
Zimmer in der Dependance an. Hier ist klar, daß C. den A. als Vertreter des Gastwirts
B., dagegen A. den Reisenden C. als Selbstpartei angeredet hat. II. 1. F. bietet dem
Hotelchef E.3 D. eine tägliche Spargellieferung mit geräumiger Zahlungsfrist an, ohne daß es
erkennbar ist, ob das Gebot dem D. persönlich oder dem E. gilt; D. nimmt das Angebot
an. Hier braucht F. die Annahme nicht gelten zu lassen, mag D. sie ausdrücklich im eignen
Namen oder als Vertreter E.3 erklären; ersternfalls kann er erwidern, er habe das Gebot
dem E., letzternfalls kann er behaupten, er habe das Gebot ihm, dem D., persönlich zuge-
dacht. Und da D., E. und F. schon wegen der Zahlungsfrist bei der Frage gleichmäßig
interessiert sind, braucht keiner von ihnen seine eigne Auslegung des von F. gemachten
Gebots preiszugeben. Ein Vertrag kommt also, da das Gesetz in diesem Fall keiner von
beiden Auslegungen den Vorzug gibt, weder zwischen F. und D. noch zwischen F. und E.
zustande. 2. Kaufmann J. offeriert der Köchin G. Küchengerät gegen Barzahlung, ohne
daß es erkennbar ist, ob das Gebot der G. persönlich oder ihrer Herrschaft gilt; die G.
nimmt das Gebot an. Hier muß J. die Annahme der G. gelten lassen, mag die G. sie in
eignem Namen oder als Vertreterin H.S erklären. Denn J. hat in diesem Fall kein In-
teresse daran, falls er sein Gebot anders verstanden hat als die G., seine eigne Auslegung
gegenüber der abweichenden Auslegung der G. durchzusetzen.
II. Die Stellvertretung ist grundsätzlich bei allen Rechtsgeschäften zuge-
lassen. Doch gibt es zahlreiche Ausnahmen. So ist bei den meisten familien-
rechtlichen Geschäften, ferner bei der Errichtung eines Testaments und bei Ab-
schluß eines Erbvertrages eine Vertretung nicht gestattet (1317, 1595 1, 1598
III, 2064, 2274 usw.).
b) Vertretung kraft Vertretungsmacht.
867.
Eine rechtsgeschäftliche Willensäußerung, die von einem Vertreter oder
gegenüber einem Vertreter abgegeben wird, soll nach der Absicht ihres Ur-
hebers nicht für den Vertreter, sondern für den Vertretenen Wirkung haben.
Diese Absicht wird aber nur voll erreicht, wenn der Vertreter für den Ver-
tretenen eine zureichende Vertretungsmacht besitzt.
I. 1. a) Die Vertretungsmacht kann zunächst durch ein Rechtsgeschäft
des Vertretenen oder durch gewisse einem solchen Rechtsgeschäft gleichgestellte
rechtsgeschäftsähnliche Akte geschaffen werden. Sie wird alsdann Voll-
macht, der Vertretene wird Vollmachtgeber, der Vertreter wird Voll-
machtnehmer oder Bevollmächtigter genannt (s. 166 I.).
a) Das Rechtsgeschäft des Vollmachtgebers, das eine Vollmacht für ihn
schafft, heißt Vollmachtserteilung. Sie besteht in einer rechtsgeschäft-