Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

8 67. Auslegung der Vollmacht. 285 
hat C. an B. gezahlt, ohne sich die Vollmachtsurkunde zeigen zu lassen; D. hat sich die 
Vollmachtsurkunde zeigen lassen, hat aber nicht sofort, sondern erst drei Tage später gezahlt, 
ohne daß ihm die Urkunde bei der Zahlung von neuem vorgelegt wurde; E. endlich hat 
sich die Urkunde zeigen lassen und hat sofort gezahlt; keiner von den drei Schuldnern 
hat irgend einen Anlaß anzunehmen, daß A. die Vollmacht widerrufen hat; B. hat das an 
ihn gezahlte Geld unterschlagen. Hier sind D. und E. durch die Zahlung an B. befreit; 
dagegen ist C. Schuldner A.s geblieben. 2. Derselbe Fall; nur hat A. den drei Schuldnern 
einen Tag, bevor sie an B. zahlten, den Widerruf der Vollmacht angezeigt. Hier ist außer 
C. auch D. Schuldner A.s#geblieben; denn D. hat zur Zeit der Zahlung gewußt oder hätte 
wissen müssen, daß B.s Vollmacht erloschen war. Dagegen ist E. auch in diesem Fall be- 
freit; denn A.s Widerruf bezog sich auf eine bereits begründete, nicht aber auf eine erst in 
Zukunft zu begründende Vollmacht; die Vollmacht B.5 ist aber gegenüber E. erst durch die 
Vorlegung der Urkunde, also erst einen Tag nach dem Widerruf, begründet worden; E. 
kann sich also dabei beruhigen, daß A. seinen Widerruf möglicherweise zurückgenommen und 
dem B. die von diesem vielleicht sofort nach dem Widerruf zurückgereichte Vollmacht von 
neuem eingehändigt hat! II. F. hat den G. durch notarielle Urkunde bevollmächtigt, sein in 
Barmen belegenes Haus an H. zu verkaufen und aufzulassen, und hat von dieser Vollmacht 
auch dem H. brieflich Nachricht gegeben: nun werden G. und H. einig und begeben sich am 
25. November 1908 vorm. 11 Uhr zu Notar J., um vor ihm Kauf und Auflassung vor- 
zunehmen; einige Minuten, bevor sie die von J. ausfgenommene Kauf= und Auflassungs- 
urkunde unterzeichnen, geht bei H. in dessen Wohnung ein Telegramm ein, in dem F. die 
Vollmacht G.s widerruft. 1. Dieser Widerruf ist wirkungslos, wenn G. dem H. seine 
Vollmachtsurkunde vorgelegt hat. 2. Er ist wirksam, wenn G. seine Vollmachtsurkunde nur 
dem Notar J. vorgelegt hatte, während H., im Vertrauen darauf, daß F. ihm G.s Vollmacht 
brieflich mitgeteilt hatte, sich die Urkunde nicht hat zeigen lassen; Kauf und Auflassung sind 
hier also mangels einer Vollmacht G.s für F. unverbindlich, obschon weder G. noch H. 
haben wissen können, daß bei der Vornahme von Kauf und Auflassung G.s Vollmacht 
nicht mehr zu Recht bestand.“ 
h) Überall, wo es gilt, den wirklichen oder mutmaßlichen Willen des 
Vollmachtgebers bei der Vollmachtsbegründung — sei es über die kausale oder 
abstrakte Natur, sei es über den Umfang, sei es über die Dauer der Voll- 
macht — zu ermitteln, sind die allgemeinen Auslegungsregeln maßgebend. 
Es kommt also nicht bloß darauf an, was der Vollmachtgeber bei Begründung 
der Vollmacht ausdrücklich erklärt hat, sondern es sind auch die begleitenden 
Nebenumstände, es ist vor allem die Verkehrssitte mit zu berücksichtigen. Dabei 
ist aber das folgende zu beachten: « 
a) Die Erklärungen des Vollmachtgebers sind stets maßgeblich, wenn sie 
gerade an die Adresse des Dritten gerichtet sind, dem gegenüber die Vollmacht 
wirksam sein soll; ihnen gleich stehn bei Vollmachten, die auf öffentlicher Be- 
kanntmachung oder auf Vorlegung einer Vollmachtsurkunde beruhn, alle Er- 
klärungen des Vollmachtgebers, die in die öffentliche Bekanntmachung oder in 
die Vollmachtsurkunde mit aufgenommen sind. Dagegen sind Erklärungen, die 
der Vollmachtgeber nur gegenüber dem Vollmachtnehmer abgegeben hat, bloß 
dann maßgebend, wenn auch die Vollmacht selbst nur auf einer Vollmachts- 
erteilung an des Vollmachtnehmers Adresse beruht. 
6) Die begleitenden Nebenumstände sind stets zu berücksichtigen, wenn sie 
gerade für den Dritten erkennbar waren, dem gegenüber die Vollmacht wirksam 
6) Siehe aber auch R. 61 S. 125.
	        
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