Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

5 6. Geschichtliche Entwicklung des d. bürgerl. Rechts. 13 
rechtliche Theorie auf. Sie ging über die Frage des geschichtlichen Ursprungs 
unfres positiven Rechts gleichgültig hinweg und nahm deshalb an dem Streit 
zwischen römischem und deutschem Recht als solchem nicht Anteil. Vielmehr 
griff sie auf ein Idealrecht zurück, das sie aus der innersten Natur des 
Menschen philosophisch abzuleiten suchte, und unterwarf vom Standpunkt dieses 
Idealrechts aus alles positive Recht, sowohl das römische wie das einheimische, 
einer einschneidenden Kritik. Jetzt war die blinde Verehrung der überlieferten 
Gesetze dahin. Man wollte nicht mehr bei dem Recht der deutschen Vorfahren 
oder dem der Römer beharren, bloß weil dies Recht einmal da war. Auch 
mit einer allmählichen, unmerklich fortschreitenden Weiterentwicklung des über- 
lieferten Rechts wollte man sich nicht begnügen: nicht ein Ausbau des alten 
Rechts unter möglichst schonender Beibehaltung der alten Bauteile, sondern ein 
Neubau des Rechts war das Ziel der naturrechtlichen Bestrebungen. Eine 
Fülle neuer Rechtsgedanken erschien auf dem Plan. Daß sie alle gut gewesen 
wären, wird man nicht behaupten dürfen; oft genug waren sie lediglich irgend- 
einem pedantischen Vorurteil entsprungen. Im ganzen aber bedeutete die neue 
Lehre eine unermeßliche Bereicherung unfres Rechtslebens. Sie erst hat unser 
Recht, das noch im 18. Jahrhundert trotz der Rezeption ein überwiegend mittel- 
alterliches Gepräge trug, zu einem neuzeitlichen Recht gemacht. Sie erst brachte 
einen kühneren, revolutionären Zug in unfre Rechtsgeschichte. 
2. Der Hauptfehler der naturrechtlichen Schule war, daß sie den Wert 
des geschichtlich entstandenen Rechts zu gering schätzte und daß sie allzusehr 
geneigt war, einem absoluten Naturrecht, d. h. einem Recht, das für alle 
Völker und alle Zeiten gleichmäßig passen sollte, nachzujagen. Dem trat zu 
Anfang des 19. Jahrhunderts die historische Schule entgegen. Diese Schule 
war nicht bloß bestrebt, die geschichtliche Entwicklung des Rechts mit wissen- 
schaftlicher Gründlichkeit zu erforschen, sondern sie zog aus ihrer geschichtlichen 
Auffassung auch praktische Folgerungen für das Recht der Gegenwart und 
Zukunft. Sie nahm an, daß das überlieferte Recht nicht ein Erzeugnis der 
Willkür oder des Zufalls, sondern mit Notwendigkeit aus dem Rechtsbewußt- 
sein des Volkes, dessen Charakter entsprechend, erwachsen sei und daß es dem- 
gemäß auch nicht nach dem freien, bloß verstandesmäßigen Gutdünken eines 
über dem Volk stehenden Gesetzgebers geändert werden solle, sondern sich selber 
organisch auswachsen müsse. 
3. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist die geschichtliche Schule mehr 
und mehr verlassen. Seitdem herrscht eine Theorie, die zwischen der geschicht- 
lichen und der naturrechtlichen Auffassung zu vermitteln sucht, die also 
einerseits an das geschichtliche Recht anknüpft und dessen stetige organische 
Fortentwicklung zu pflegen bemüht ist, aber andrerseits vor einer freien Kritik 
des geschichtlichen Rechts nicht zurückscheut und nach Maßgabe des Ergebnisses 
dieser Kritik auch eine plötzliche, einschneidende, auf rein verstandesmäßiger 
Überlegung beruhende Anderung des alten Rechts befürwortet.
	        
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