304 Buch J. Abschnitt 5. Verschulden und Zufall.
das Gesetz neben dem Kennen von dem „Kennenmüssen“. Doch dürfen diese
Regeln nicht verallgemeinert werden. Denn es gibt eine letzte Reihe von
Fällen, in denen das Gesetz eine bestimmte Rechtswirkung nur eintreten
läßt, wenn die dadurch benachteiligte Partei eine gewisse Tatsache positiv ge-
kannt hat; die Partei geht hier also, wenn ihr die verhängnisvolle Kenntnis
mangelt, frei aus, mag ihre Unkenntnis auch auf einer geradezu lächerlichen
Fahrlässigkeit beruhen.
Beispiele. I. Der Kenntnis wird eine grobfahrlässige Unkenntnis gleichgestellt in
BG. 932. II. Der Kenntnis wird sogar eine leichtfahrlässige Unkenntnis gleichgestellt in
BGB. 179 III. III. Der Kenntnis wird weder eine leicht= noch auch eine grobfahrlässige
Unkenntnis gleichgestellt in BGB. 892, 179 II.
3. Kann sich jemand mit seiner Unkenntnis entschuldigen, so kann er sich
nicht bloß auf einen tatsächlichen, sondern auch auf einen Rechtsirrtum be-
rusen. So auch in Fällen, in denen der Kenntnis eine fahrlässige Unkenntnis
gleichsteht; allerdings wird ein Rechtsirrtum sehr oft fahrlässig sein; aber daß
er ausnahmslos fahrlässig wäre, wird man — namentlich dann, wenn die
maßgebende Rechtsregel bestritten ist — nicht behaupten dürfen.
Beispiele. A. hat Inhaberpapiere, die zum Nachlaß seines verstorbenen Freundes B.
gehören, als dessen Erbe in Besitz genommen und an C. veräußert; sein Erbrecht stützt sich
lediglich auf ein Privattestament B.d, von dem sowohl A. wie C. wissen, daß es falsch da-
tiert und deshalb nach der Praxis des Reichsgerichts nichtig ist; sie selber folgen aber der
u. a. von mir vertretenen Meinung, daß das Testament gültig ist. Hier wird jeder, der sich
meiner Meinung anschließt, die Frage, ob C. das Eigentum der Papiere erworben hat,
selbstverständlich bejahn. Aber auch wer der Meinung des Reichsgerichts ist, muß zu dem-
selben Ergebnis gelangen; denn er wird nicht bestreiten können, daß C., von seinem
Standpunkt aus, den Mangel des Eigentums auf seiten A.s nicht gekannt hat und
daß diese seine Unkenntnis, obschon vom Standpunkt der reichsgerichtlichen Praxis aus
rechtsirrtümlich, doch auf keiner groben Fahrlässigkeit beruht; sonach ist C. bei dem Er-
werbe der Papiere in gutem Glauben gewesen und hat das Eigentum der Papiere auch
dann erlangt, wenn A. in Wirklichkeit nicht Erbe B.# gewesen ist (932, 935).
4. a) Gewisse Personen sind für ihre Verschuldungen nicht verantwort-
lich; im Anschluß an den Sprachgebrauch des Strafgesetzbuchs kann man sie
unzurechnungs ffähig nennen. Hierher gehören (828, 827, 276):
a) Kinder unter sieben Jahren;
6) Personen, die das siebente, aber noch nicht das achtzehnte Lebensjahr
vollendet haben, sofern sie zur Zeit der Tat nicht die zur Erkenntnis der Ver-
antwortlichkeit erforderliche Einsicht besessen haben;
)) Taubstumme, sofern auch ihnen diese Einsicht fehlt;
6) Personen, die sich zur Zeit der Tat im Zustande der Bewußtlosigkeit
oder in einem die sogenannte Willensfreiheit ausschließenden Zustande krank-
hafter Störung der Geistestätigkeit befanden; doch gilt eine Ausnahme, wenn
sich jemand schuldhaft durch geistige Getränke oder ähnliche Mittel in einen
vorübergehenden Zustand dieser Art versetzt hat; alsdann ist er für den
Schaden, den er in diesem Zustande angerichtet hat, so verantwortlich, wie
wenn ihm Fahrlässigkeit zur Last fiele, es sei denn, daß er nachweislich ohne
Verschulden in den Zustand getreten ist.