8 71. Zurechnungsfähigkeit. 305
b) Alle andern Personen sind voll zurechnungsfähig. Doch ist be-
reits erwähnt, daß auch in ihrem Kreise die Individualität dessen, dem ein
Verschulden zur Last gelegt wird, keineswegs gleichgültig ist, sondern im
Einzelfall sehr wohl einen Grund zur Verneinung der Schuldfrage abgeben
kann (s. oben S. 3017).
Tc) Unzurechnungsfähigkeit und Geschäftsunfähigkeit ist selbstverständlich
nicht dasselbe: es gibt geschäftsfähige Personen, die unzurechnungsfähig sind,
und umgekehrt.
Beispiele. I. 1. A., der gestern sieben Jahr alt geworden, und B., der drei Tage
jünger ist, sind mit Einwilligung ihrer Eliern von C. angestellt, dessen Gänse zu hüten;
beide spielen aber so schön zusammen, daß ihnen mehrere Gänse davonlausen. Hier muß
bei A. geprüft werden, ob er die zur Erkenntnis seiner Verantwortung als Gänsehirt er-
forderliche Einsicht besaß; wird die Frage bejaht, z. B. weil er die Hirtenstelle bereits sechs
Monate innehat und im Besitz einiger Erfahrung ist, so ist er dem C. haftpflichtig. Dagegen
ist B. unter allen Umständen haftfrei, auch wenn er an Einsicht dem A. entschieden über-
legen ist. 2. D. ist ein Trunkenbold, der, wenn er im Nausch ist, alles zerschlägt, was
ihm in die Hände kommt. Hier ist D. für den Schaden, den er in sinnloser Trunkenheit
anrichtet, ersatzpflichtig, es sei denn, daß er ausnahmsweise für seine Trunkenheit nichts
kann. II. Ein zwölfjähriges Kind E. und ein neunzigjähriger Schwachkopf F. setzen durch
weggeworfene brennende Streichhölzer einen Stall in Brand; beide haben die zur Erkenntnis
ihrer Verantwortung erforderliche Einsicht nicht, E., weil er sie noch nicht gewonnen, F.,
weil er sie wieder verloren hat. Hier ist E. wegen Unzurechnungsfähigkeit haftfrei. Aber
auch den F. werden wir haftfrei lassen müssen; zurechnungs fähig ist er freilich; aber man
kann ihm um seiner Verblödung willen nicht den Vorwurf fahrlässigen Verhaltens machen.
III. 1. Ein Taubstummer, der über 21 Jahr alt und nicht entmündigt ist, kann unzurech-
nungsfähig und doch voll geschäftsfähig sein. 2. Wer wegen Geisteskrankheit entmündigt ist,
ist in lichten Zwischenaugenblicken voll zurechnungsfähig und doch geschäftsunfähig.
Zu beachten ist übrigens, daß die Unzurechnungssähigkeit die Verantwortung für
schuldhaftes Verhalten nicht allgemein, sondern nur bei Delikten und bei der Verletzung einer
obligatorischen Verpflichtung ausschließt (827, 828, 276). Wenn also ein noch nicht sieben-
jähriges Kind einen Hund solange reizt, bis er auf das Kind losfährt und es beißt, so kann
im Einzelfall der Besitzer des Hundes sich durch Berufung auf die „Schuld“ des Kindes
(254) haftfrei machen.
V. Überaus häufig wird eine schuldhafte Handlung nicht oder nicht allein
dem eigentlichen Täter, sondern auch einem andern oder gar nur ihm als
Schuld zugerechnet. 10 Dies geschieht aus zwei völlig verschiedenen Gründen.
1. Der erste Grund ist der, daß dem „andern“ in bezug auf jene Hand-
lung tatsächlich ein persönliches Verschulden zur Last fällt. Die wichtigsten
hierhergehörigen Fälle sind folgende.
a) Der „andre“ hat dem Täter Auftrag zu der Handlung gegeben, ob-
schon er wußte oder wissen mußte, daß die Handlung überhaupt nicht vor-
genommen werden durfte.
b) Er hat dem Täter Auftrag zu der Handlung gegeben, obschon er
9) Weyl, System S. 527; abw. Biermann 1 S. 336.
10) Nußbaum, Haftung für Hülfspersonen (98); Brückner, Haftung für das rechts-
widrige Verhalten andrer (O1); R. Hoffmann, Haftung des Schuldners für seine Ge-
hülfen (02).
Cosack, Bürgerl. Recht. 5. Aufl. I. 20