310 Buch I. Abschnitt 5. Verschulden und Zufall.
4. In einigen Fällen haftet jemand für den Schaden, der durch irgend-
ein Ereignis angerichtet ist, dem Geschädigten auch dann, wenn er an dem
Ereignis unschuldig ist, vorausgesetzt, daß das Ereignis ein „innerer“ Zufall
ist, während er haftfrei ist, wenn es sich um einen „äußeren“ Zufall handelt.
Aus dem bürgerlichen Gesetzbuch gehört hierher die Haftung des Gastwirts
für die eingebrachten Sachen der Reisenden (701).
a) Ein Zufall ist ein „innerer“, wenn er dem individuellen Kreise des
Haftpflichtigen entstammt. Demnach ist ein innerer Zufall im Betriebe eines
Gastwirts namentlich:
a) das eigne schuldlose Verhalten des Wirts;
6) das schuldhafte oder schuldlose Verhalten seiner Leute, d. h. seines
etwaigen gesetzlichen Vertreters, seiner Erfüllungsgehülfen und seiner sonstigen
Angestellten;
)) das von ihm nicht verschuldete Versagen seiner Betriebseinrichtungen
oder Werkzeuge.
b) Ein Zufall ist ein „äußerer“ oder gilt, wie man sich auch aus-
zudrücken pflegt, als „höhere Gewalt“ (Vvis major), wenn er außerhalb des
individuellen Kreises des Haftpflichtigen entstanden ist. Demnach sind im Be-
triebe eines Gastwirts äußerer Zufall oder höhere Gewalt namentlich:
a) Naturereignisse, es sei denn, daß sie von dem Wirt oder seinen Leuten
unschädlich gemacht werden konnten;
8) Raub und Diebstahl, es sei denn, daß sie von dem Wirt selbst oder
von seinen Leuten oder von seinen Gästen begangen sind oder von dem Wirt
oder seinen Leuten hätten verhindert werden können;
7) Eingriffe der Obrigkeit, es sei denn, daß sie von dem Wirt oder
seinen Leuten veranlaßt sind.
Beispiel. Der Hotelomnibus des A. fällt in einen Graben, weil die Brücke, die über
den Graben führt, in dem Augenblick einstürzt, als der Wagen sie passiert; dabei wird ein
Koffer, den der Wagen dem bei A. logierenden B. zuführen soll, beschädigt; weder A. noch
einer seiner Leute konnte den Einsturz der Brücke hindern oder auch nur voraussehn. Hier
ist A. dem B. haftbar, wenn die Brücke zu seinem Hotel gehörte; er ist haftfrei, wenn sie
eine öffentliche Brücke war. Denn in ersterem Fall war der Einsturz der Brücke ein innerer
Zusall; im zweiten war sie höhere Gewalt.
Die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Zufällen ist nicht immer leicht. Doch
ist sie so sinnvoll, daß man nur wünschen kann, ein künftiger Gesetzgeber möge sie minder
sparsam anwenden, als dies jetzt im BGB. geschehn, und die Haftung eines Schuldners für
Zufall bis zur höheren Gewalt zur allgemeinen nur vielleicht von einzelnen Ausnahmen
durchbrochenen Regel erheben. Denn die inneren Zusälle gehören derselben Sphäre an, der
der Schuldner auch alles Glück, das ihm im Leben zuteil wird, zu verdanken hat: nimmt er
dies Glück hin, ohne zu fragen, ob er es verdient hat, so muß er auch das Ubel, das jener
Sphäre entspringt, auf sich nehmen, ohne zu fragen, ob er es verschuldet hat. Ist doch sein
Gläubiger an dem Ubel ebenso unschuldig! Und wenn nun einmal ein Unschuldiger das
Unglück tragen muß, so kann man es weit eher ihm zumuten als dem Gläubiger, eben weil
er der Quelle des Übels näher steht als dieser.