350 Buch I. Abschnitt 6. Eigenmächtige Rechtsausübung.
ausüben oder sichern will, in Wirklichkeit zustehn — dadurch, daß er eigen-
mächtig vorging, hat er sich formell ins Unrecht gesetzt. Deshalb darf sein
Gegner wider ihn zur Notwehr schreiten.
Beispiel. Ein Mieter will in die ihm zum 1. April vermietete Wohnung am richtigen
Ziehtage einziehn; ohne jeden Grund verweigert ihm der Vermieter den Einzug in die
Wohnung; der Mieter ist durchaus im Recht, der Vermieter im Unrecht; da will der
Mieter den Einzug mit Gewalt erzwingen, und der Vermieter vermag sich seiner nur da-
durch zu erwehren, daß er ihn schwer verletzt. Hier ist bei diesem Faustkampf der Vermieter
im Recht, der Mieter im Unrecht.
2. à) Hat der Berechtigte, indem er unbefugterweise zur Eigenmacht griff,
schuldhaft gehandelt, so ist er zum Schadensersatz verpflichtet.
b) Die gleiche Verpflichtung hat der, der ein angebliches Notangriffsrecht
gebraucht hat, das ihm in Wahrheit nicht zustand, auch dann, wenn er nicht
schuldhaft, sondern in einem entschuldbaren Irrtum gehandelt hat (231).
IV. 1. Die Regeln dieses Paragraphen haben auch strafrechtlich eine große Bedeutung.
Denn soweit sie eine eigenmächtige Handlung privatrechtlich für rechtmäßig erklären, erklären
sie sie zugleich kriminell für straflos. Dies ist z. B. bei der Auslegung von StrG. 54 zu
berücksichtigen; wenn es hier heißt, daß eine strafbare Handlung nicht vorhanden sei, falls
die Handlung in einem unversichuldeten auf andre Weiie nicht zu beseitigenden Noistande zur
Rettung aus einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben des Täters oder eines An-
gehörigen begangen worden ist, so muß hinzugesügt werden: die Beschädigung oder Zerstörung
fremder Sachen im Nolstande ist gemäß BEB. 228 rechtmäßig, also nicht strafbar auch
dann, wenn a) der Noistand ein verschuldeter war, b) wenn die Gefahr nicht Leib oder
Leben, sondern irgendein andres Gut, z. B. das Vermögen, betraf, c) wenn sie nicht die
Güter des Täters oder seiner Angehörigen, sondern eines Fremden anging.
2. Der Satz zu 1 darf aber nicht eiwa dahin umgekehrt werden, daß eine Eigenmacht
um deswillen, weil das Strafsgesetzbuch sie straffrei läßt, auch privatrechtlich für rechimäßig
anzusehn sei. Vielmehr ist beispielsweise ein Notwehrexzeß, wenn der Täter in Bestürzung,
Furcht oder Schrecken über die Grenzen der Verteidigung hinausgegangen ist, zwar straflos
(Str G. 53 III), aber (regelmäßig) privatrechtlich rechtswidrig.
III. Rechtsausübung im Prozeß.
§ 79.
I. Die meisten Rechte können sowohl außergerichtlich wie im Prozeßwege
geltend gemacht werden. Doch gibt es nach beiden Richtungen hin Aus-
nahmen: bei manchen Rechten ist die Ausübung nur außergerichtlich, bei
andern Rechten ist die Ausübung nur im Prozeßwege möglich.
Beispiele. I. Die prozessuale Verfolgung ist ausnahmsweise ausgeschlossen bei dem
Recht eines Verlobten auf Erfüllung des Eheversprechens (1297). II. Die außerprozessuale
Verfolgung eines Rechis ist ausnabmsweise ausgeschlossen bei dem Recht eines Ehemanns,
die Ehelichkeit eines von seiner Ehefrau gebornen Kindes anzufechten (1596)
Bemerkenswert ist noch, daß bei manchen Rechten die gerichtliche Verfolgung dahin
eingeschränkt ist, daß ihretwegen die Klagerhebung wider den Gegner und seine Verurteilung,
1) Fischer bei B. u. F Heft 6 (89); F. Friedenthal, Einwendung u. Einrede (98):
Hellwig, Anspruch u. Klagrecht (00); Langheineken, Anspruch u. Einrede (03).