Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

8 84. Gattungsobligationen. 365 
(243 ID; der Schuldner muß also eine einzelne zur Gattung gehörige Sache 
von mittlerer Art und Güte für den Gläubiger erkennbar ausscheiden und 
diese Sache je nach der Art seiner Lieferungspflicht entweder zur Abholung 
für den Gläubiger bereit halten oder sie ihm bringen oder sie an ihn absenden. 
Daß die Wahl empfangsbedürftig ist, d. h. daß sie erst wirksam wird, wenn 
der Schuldner sie dem Gläubiger anzeigt, ist nicht vorgeschrieben. 
Beispiele. I. A. hat dem B. ein Darlehn von 3000 Mk. zugesagt, und B. hat ver- 
sprochen, sich am Montag um 10 Uhr zur Empfangnahme der Summe einzufinden; dem- 
gemäß holt A. um 9 Uhr drei Tausendmarkscheine von der Bank und hält sie für B. bereit. 
Hier ist die Gattungsschuld A.s, gerichtet auf Zahlung von 3000 Mk., in eine Speziesschuld, 
gerichtet auf Zahlung der speziellen für B. bereit gehaltenen drei Tausendmarkscheine, ver- 
wandelt. Doch tritt diese Umwandlung erst um 10 Uhr ein. Denn erst in diesem Augen- 
blick darf A. seine Wahl treffen. Was er vorher tat, war nur eine Vorbereitung für seine 
Wahl. II. Derselbe Fall: nur hat A. auf der Bank 35 Hundertmarkscheine geholt, von denen 
er 30 für B. bestimmt hatte, ohne übrigens diese 30 von den andern 5 zu trennen. Hier 
ist A. von 10 Uhr ab verpflichtet, aus den 35 bei ihm liegenden Scheinen nach eigner Wahl 
30 an B. zu zahlen; seine Gattungsschuld ist also in eine alternative Speziesschuld ver- 
wandelt.“ 
1) Solange der Gläubiger die Wahl nicht angenommen hat, ist der 
Schuldner befugt, sie beliebig zu widerrufen: ein „jus variandi“ ist ihm nicht 
vorzuenthalten. Denn das Gesetz hat das Gegenteil nicht bestimmt; und das 
Bedürfnis des Rechtslebens fordert, anders als bei der Alternativobligation, 
die Widerruflichkeit der Wahl unbedingt,' da der Gläubiger regelmäßig kein 
Interesse daran hat, den Schuldner an der einmal von ihm getroffenen Wahl 
festzuhalten. Doch will die herrschende Meinung ein jus variandi des 
Schuldners nur in Ausnahmefällen anerkennen. 
Beispiele. I. A. hat dem B. und dem C. eine Schuld laut Abrede in „guten“ Wert- 
papieren abzuzahlen; er schafft demgemäß „gute“ Aktien und Staatspapiere an und sendet 
die Aktien an B., die Staatspapiere an C. ab; da trifft ein Brief des C. bei ihm ein, in 
dem dieser um Aktien bittet; sofort läßt B. sich beide Sendungen von der Post zurückgeben 
und schickt nunmehr die Staatspapiere an B., die Aktien an C. Hier ist A. zu dieser 
Anderung seiner Wahl wohl befugt, und B. darf nicht etwa, wenn er den Vorgang zufällig 
erfährt, darauf bestehn, daß A. ihm Aktien liefert. II. Wenn D. die ihm auf Grund einer 
Gattungsobligation von dem Schuldner E. angebotene Lieferung grundlos zurückweist, so 
kann E. die von ihm angebotenen Stücke anderweit veräußern und dem D. später andre 
Stücke liefern. Dagegen müßte man ihm dies Recht versagen, wenn er durch sein erstes An- 
gebot ohne jus variandi verpflichtet wäre, dem D. gerade die damals angebotenen Stücke 
zu liefern. 
8) Nicht selten verspricht ein Schuldner die Lieferung von Sachen aus einem individuell 
bestimmten Vorrat. Hier kann eine Alternativ= oder eine Gattungsobligation vorliegen, je 
nachdem die Parteien jenen Vorrat als einen konkreten Sachinbegriff oder abstrakt als eine 
Gattung aufgefaßt haben. Ersteres ist z. B. anzunehmen, wenn jemand 10 Flaschen Wein 
aus seinem Weinkeller, letzteres ist z. B. anzunehmen, wenn jemand einen Waggon Kohle 
aus einem bestimmten Kohlenbergwerk zu liefern verspricht.“ 
6) Abw. ROHG. 22 Nr. 64. 
7) F. Leonhard, Jahrb. f. Dogm. 41 S. 30. Abw. Berndorff, Gattungsschuld 
(00) S. 39. 
8) Staudinger-Kuhlenbeck zu § 243. Abw. Ortmann zu § 243.
	        
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