§ 91. Schadensersatz. 383
anwenden, so wäre das Ergebnis, daß der Schuldner dem Gläubiger einen
Ersatz für Dinge leisten müßte, von denen nicht einzusehn ist, warum sie gerade
diesen Gläubiger etwas angehn und warum gerade dieser Schuldner sie ver-
treten soll.
Beispiele. I. A. hat für ein Konzert, das er mit großen Kosten unternommen, die
Sänger B. und C. engagiert; beide sagen aber unabhängig voneinander zu gleicher Zeit
grundlos ab; da es zu spät ist, um Ersatzkräste zu gewinnen, muß A. das Konzert ganz
ausfallen lassen; und zwar wäre er hierzu auch dann genötigt gewesen, wenn nur einer der
beiden Sänger abgesagt hätte, der andre dagegen pünktlich erschienen wäre. Sollen hier
B. und C. haftfrei sein? II. 1. D. ist mit seinem Wagen so heftig gegen den Torpfeiler
des E. angefahren, daß der Pfeiler umgestürzt ist und dabei auch den Wagen D.s zer-
trümmert hat. Soll hier E. berechtigt sein zu fordern, daß D. nicht bloß den Pfeiler wieder
aufbaut, sondern auch seinen eignen Wagen wieder instand setzt? 2. F. hat die ihm zur
Reparatur übergebene Uhr des G. so schlecht ausgebessert, daß sie nicht zu brauchen ist; G.
bringt sie deshalb zu dem Uhrmacher H., der in einem Stadtteil wohnt, den G. sonst nie
betritt; auf dem Wege zu H. gießt ein Strolch Schwefelsäure auf den Pelz, den G. trägt,
und verdirbt ihn gänzlich. Soll hier der Uhrmacher F. für den Pelz des G. Ersatz leisten
müssen?
b) Sonach bedarf die Formel des Gesetzes, dem Bedürfnis des Rechts-
lebens entsprechend, einer Abänderung.? Das Gesetz hat eine solche Abänderung
auch selber versucht, indem es für einige Fälle — es handelt sich vor allem
um den Fall, daß der zu ersetzende Schaden in entgangenem Gewinn besteht,
und um den andern Fall, daß der Schaden durch ein eignes Verschulden des
Geschädigten mit verursacht ist (252, 254) — Ausnahmen von seiner Regel
vorschreibt. Doch darf man sich damit nicht begnügen, sondern muß eine von
der gesetzlichen Formel grundsätzlich abweichende, völlig neue Norm aufstellen:
der „Schaden", auf dessen Erstattung die Schadensersatzpflicht abzielt, umfaßt
sämtliche Folgen des zum Ersatz verpflichtenden Umstandes, vorausgesetzt
erstens positiv, daß der Gläubiger an der Beseitigung dieser Folgen ein recht-
liches Interesse hat;
zweitens negativ, daß nicht neben dem zum Ersatz verpflichtenden Umstande
noch andre Umstände, die der Schuldner an und für sich nicht zu vertreten
braucht, mitgewirkt haben, um diese Folgen hervorzubringen, und daß es
unbillig wäre, den Schuldner um des ersteren Umstandes willen für das
verantwortlich zu machen, was doch nicht allein durch ihn, sondern auch durch
die letzteren Umstände verursacht ist.
Bei Entscheidung der Frage, ob die zweite Voraussetzung erfüllt ist, sind
alle Besonderheiten des Einzelfalls mit zu berücksichtigen: bei jeder Folge, die
außer dem zum Ersatz verpflichtenden Umstande noch andre vom Schuldner
nicht zu vertretende Umstände zur Ursache hat, muß eben jener und müssen
diese Umstände im Verhältnis zueinander frei bewertet werden; allgemeine
Bewertungsgrundsätze aufzustellen ist hier gerade ebenso aussichtslos wie im
2) Abw. die 4. Aufl. d. Buchs 1 S. 328; v. Liszt, Deliktsobligationen S. 70; Scholl-
meyer Anm. 4 zu § 253; Landsberg S. 256.