Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

§ 9. Die Rechtsquellen. 23 
eine Rechtsregel, die im Rechtsgebiet durch Gesetz oder Gewohnheit für einen 
bestimmten Tatbestand aufgestellt ist, auch für einen andern gleichartigen von 
Gesetz und Gewohnheit nicht berücksichtigten Tatbestand passend erscheint. Denn 
um der Gerechtigkeit willen muß man gleichartige Tatbestände in gleicher Art 
behandeln. 
4. Die vierte Quelle ist das Bedürfnis des Rechtslebens, d. h. 
die Tatsache, daß das Rechtsleben im Rechtsgebiet sich bloß bei Anwendung 
einer bestimmten Rechtsregel gedeihlich entwickeln kann. Denn das Recht ist 
nicht um seiner selbst willen, sondern zum Wohl des Volkes anzuwenden. 
Beispiele für die vier Rechtsquellen siehe in den folgenden drei Paragraphen. 
Von den vorgenannten vier Rechtsquellen werden meist nur die erste und zweite oder 
allenfalls auch noch die dritte als solche anerkannt, während man dem Bedürfnis des Rechts- 
lebens die Würde einer Rechtsquelle meist versagt. 3 Indes wird man von solchem Standpunkt 
aus sehr oft auf Lücken im Rechtssystem stoßen, die sich schlechterdings nicht ausfüllen lassen.“ 
Sollen nun die Gerichte, wenn sie in einem ihrer Entscheidung unterbreiteten Rechtsstreit 
auf eine derartige Lücke stoßen, die Entscheidung ganz verweigern? Oder sollen sie die 
Entscheidung ganz nach Willkür treffen? Das eine geht so wenig an wie das andre! Nein, 
auch in einem solchen Fall haben die Gerichte einfach zu sagen, was Rechtens ist! Das heißt: 
die Gerichte haben jene Lücken im Rechtssystem auf eigne Faust auszufüllen; sie haben die 
Regeln, die ihnen weder Gesetz noch Gewohnheit noch Analogie an die Hand geben, selber 
zu bilden. Welch andre Richtschnur sollen aber die Gerichte dabei benutzen als das Bedürfnis 
des Rechislebens? — Beispiele: weder Gesetz noch Gewohnheit noch Rechtsanalogie geben 
Auskunft darüber, I. ob die Wirkungen eines im Auslande abgeschlossenen, aber im Inlande 
zu erfüllenden Vertrages nach ausländischem oder nach inländischem Recht zu beurteilen sind, 
II. ob und wie lange die „stille“ Annahme eines Vertrages (151) widerrusen werden kann. 
Nur eine Frage des Ausdrucks ist es, ob man nicht statt des „Bedürfnisses des Rechts- 
lebens“ lieber die Natur der Sache als vierte Rechtsquelle bezeichnen will. Der von 
mir gebrauchte Ausdruck scheint mir charakteristischer zu sein. 
II. Den vier Arten der Rechtsquellen entsprechend kann man vier ver- 
schiedene Arten bürgerlicher Rechtsregeln unterscheiden, nämlich: 
das Gesetzesrecht, 
das Gewohnheitsrecht, 
das Recht der Analogie, 
das aus dem Bedürfnis des Rechtslebens geschöpfte Recht. 
Doch kann man die beiden letzten Arten auch unter dem Namen Recht der 
Wissenschaft zusammenfassen. 
III. Sehr oft wird der Ausdruck „Gesetz“ nicht nur in dem eben ent- 
wickelten engen Sinn, in dem er lediglich eine bestimmte Rechtsquelle bedeutet, 
gebraucht, sondern außerdem auch als gleichbedeutend mit dem Wort „Rechts- 
regel“ behandelt: es wird also auch eine nur durch Gewohnheit festgelegte 
oder zum Recht der Wissenschaft gehörige Regel oft „Gesetz“ genannt. Auch 
3) Siehe Crome 1 §5 16, 17, 21; Endemann 1 89§ 8, 9, 12; Zitelmann, Grundriß 
S. 9 ff.; Landsberg S. 44. 
4) Windscheid-Kipp 1 § 23; Ehrlich, freie Rechtsfindung (03); Zitelmann, Lücken im 
Recht (03); Hellwig, Zivilprozeßrecht 2 (06) S. 165; Stampe, D. Jurztg. 10 S. 1019. 
5) So auch E. 2.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.