Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

414 Buch II. Abschnitt 1. Das Recht der Forderungen im allgemeinen. 
lichen Charakters und ist ein rein tatsächlicher Vorgang. Doch ist das eine 
wie das andre bestritten.? 
Beispiele. I. 1. Die Sängerin A. hat sich gegenüber B. verpflichtet, gegen ein 
Honorar von 200 Mk. auf einer Gesellschaft bei ihm ein Lied zu singen; nun wird sie 
einmal von B. zu einer kleinen Gesellschaft eingeladen, trägt dort unaufgefordert ein Lied 
vor und schickt dem B. tags drauf eine Rechnung über 200 Mk. zu; B. will aber jene un- 
gebetene Leistung der A. nicht als Erfüllung ihres Versprechens gelten lassen, da sein Plan 
war, den Gesang der A. für ein größeres Fest aufzusparen. Hier ist die A. nur im Recht, 
wenn sie beim Vortrage ihrer Lieder erkennbar den animus solvendi hatte, d. h. wenn sie 
damalserkennbar beabsichtigte, durch den Vortrag ihre Schuld gegenüber B. zu erfüllen; denn war 
dies der Fall, so hätte B. sich entweder diese Art der Erfüllung gefallen lassen oder aller- 
mindestens sofort dagegen Widerspruch einlegen müssen. Der Gesang der A. hatte also, 
obschon er an und für sich gewiß kein Rechtsgeschäft war, doch in diesem Fall, als Er- 
süllung einer Schuld der A., rechtsgeschäftlichen Charakter. 2. Noch viel deutlicher tritt 
der rechtsgeschäftliche Charakter der Erfüllung als solcher hervor, wenn C., der dem 
Bankier D. 1000 Mk. schuldet, ihm durch Geldbrief 800 Mk. schickt. Denn diese Zahlung 
kann allen möglichen Zwecken dienen: sie kann z. B. als Vorschuß für Auslagen gedacht 
sein, die D. erst in Zukunft für C. machen soll. Wenn sie also im Einzelfall dazu dienen 
soll, die Schuld C.s gegenüber D. zu tilgen, so muß C. dies rechtsgeschäftlich besonders be- 
stimmen. Doch soll damit selbstverständlich nicht gesagt sein, daß diese Bestimmung eine 
ausdrückliche sein müßte. II. Wenn E. seinem Nachbar F. versprochen hat, gegen eine 
jährliche Vergütung von 200 Mk. während der nächsten zehn Jahre in seinem Garten keine 
Bauten zu errichten, so kann er diese seine Verpflichtung auch unabsichtlich erfüllen, also 
sogar dann, wenn er das dem F. gegebene Versprechen gänzlich vergessen hat und das 
Bauen in seinem Garten nur unterläßt, weil es ihm selber nicht paßt. 
III. 1. Besteht die Erfüllung einer Forderung in einem Rechtsgeschäft, so 
ist sie regelmäßig gegenüber dem vorzunehmen, der zur Verfügung über die 
Forderung im allgemeinen zuständig ist (s. oben S. 411). Doch wird nicht 
selten ein andres bestimmt: jemand wird gesetzlich oder rechtsgeschäftlich er- 
mächtigt, die Erfüllung einer Forderung in eignem Namen anzunehmen, ob- 
schon er im übrigen zur Verfügung über die Forderung nicht zuständig ist 
(Solutionis causa adjectus). Einen besonders wichtigen Fall einer solchen 
Ermächtigung werden wir weiter unten zu VIII, 3 in der Lehre von der 
Quittung kennen lernen. 
Beispiel einer rechtsgeschäftlichen Bestellung eines solutionis causa adjectus: A. gibt 
dem B. ein Darlehn und bestimmt dabei, daß, da er selbst viel auf Reisen ist, die Zinsen 
stets an den Bankier C. zu zahlen seien. 
Die rechtsgeschäftliche Bestellung eines solutionis causa adjectus ist vieldeutig; welche 
Bedeutung sie im Einzelfall hat, läßt sich nur durch Auslegung des Rechtsgeschäfts be- 
stimmen. So kann sie bedeuten, daß der Schuldner an den s. c. a. zu leisten verpflichtet 
oder daß er zur Leistung an ihn nur ermächtigt ist; so kann sie widerruflich oder unwider- 
ruflich gemeint sein usw. 
Der solutionis causa adjectus ist nicht etwa als Mitgläubiger neben dem eigentlichen 
Gläubiger anzusehn; denn er kann die dem Schuldner obliegende Leistung im Zweifel zwar 
annehmen, nicht aber einfordern oder gar einklagen. Ebensowenig darf man ihn aber für 
einen bloßen Stellvertreter des Gläubigers halten; denn er nimmt die ihm vom Schuldner 
angebotene Leistung in eignem Namen an und gquittiert deshalb auch in eignem Namen 
darüber; daraus folgt z. B., daß wenn es sich um eine Geldzahlung handelt, das Geld in 
2) Kretschmar a. a. O. S. 82, 98.
	        
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