32 Buch I. Abschnitt. 1. Die Rechtsregeln.
b) Dagegen sind die Landesgewohnheiten auf diejenigen Teile des bürger-
lichen Rechts beschränkt, die das Reich der Landesgesetzgebung überwiesen hat.“
Ja in Altpreußen ist ihr Geltungsbereich noch enger: es werden hier nämlich selbst
auf dem der Landesgesetzgebung überwiesenen Gebiet nur diejenigen Provinzialgewohnheiten
als Rechtsquelle anerkannt, die bereits bei Einführung des preußischen Landrechts ausgebildet
waren, während die Bildung eines jüngeren Provinzialgewohnheitsrechts ein für allemal
untersagt ist (Publ.-Patent z. pr. LR. v. 5. Febr. 1794 VII).
Eine andre (übrigens nicht unbestrittene) Beschränkung der Landesgewohnheiten gilt
im Gebiet des vormaligen gemeinen Rechts 5?: hier wird nämlich den Landesgewohnheiten
die Kraft einer Rechtsquelle abgesprochen, wenn sie nur aus einem Irrtum über das geltende
Recht entstanden sind oder der Vernunft oder den guten Sitten widersprechen.
I) Noch enger ist das Geltungsgebiet der Observanzen: es umfaßt nur
diejenigen Materien, in denen die Bildung von Observanzen durch eine Regel
des Reichs= oder Landesrechts besonders zugelassen ist.
3. a) Der Rang der Reichsgewohnheiten ist gesetzlich nicht normiert. Dem-
gemäß" ist anzunehmen, daß ihnen der gleiche Rang zukommt wie den Reichs-
gesetzen; denn die Macht der Gewohnheit hat sich seit jeher als ebenso stark
bewährt wie die des Gesetzes. Es kann also nicht nur eine Reichsgewohnheit
durch ein Reichsgesetz, sondern auch umgekehrt ein Reichsgesetz durch eine
Reichsgewohnheit außer Kraft gesetzt werden. Das Reichsgewohnheitsrecht
dient somit keineswegs bloß zur Ausfüllung einer von den Reichsgesetzen ge-
lassenen Lücke („Praeter legem“"), sondern kann sich auch im Widerspruch zu
den Reichsgesetzen („contra legem“) geltend machen.“ Doch wird natürlich
die Bildung einer gewohnheitsrechtlichen Regel tatsächlich um so schwieriger
sein, je schroffer sie den Reichsgesetzen widerspricht. Denn ehe die Regel zur
Gewohnheit ward, war sie eben noch nicht „Recht“, und wenn sie damals
trotzdem angewendet wurde, war das „Unrecht“. Ein solches Unrecht wird
sich aber um so schwieriger behaupten und also auch um so schwieriger zur
Gewohnheit erstarken, je offenbarer es den Reichsgesetzen als dem zurzeit noch
geltenden Recht zuwiderläuft; denn um so offenbarer ist seine Widerrechtlichkeit.
Nur dann, wenn der Konuflikt einer neuen unrechtmäßigen UÜbung mit dem
geltenden Recht in seinen Anfängen unbemerkt bleibt, ist die Fortbildung der
Ubung zu einem wirklichen Gewohnheitsrecht wahrscheinlich.
b) In derselben Art stehen die Landesgewohnheiten den Landesgesetzen,
die Observanzen den autonomen Statuten im Range gleich.
II. Das bürgerliche Gewohnheitsrecht ist, gerade wie das bürgerliche Ge-
setzesrecht, entweder gemeines deutsches Recht oder Partikularrecht
eines einzelnen zum Reich gehörigen Teilgebiets. Jenes wird nur durch
Reichsgewohnheiten, dieses wird durch Landesgewohnheiten oder Observanzen
begründet.
Beispiele siehe oben zu I, 1.
4) Crome 1 §. 17.
5) Siehe Windscheid-Kipp 1 § 16; Dernb. 1 § 27.
6) Dernb., B. 1 § 28“; Hölder S. 53. Abw. Laband 2 § 57 III; Endemann 18 9 1°.