Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

36 Buch I. Abschnitt I. Die Rechtsregeln. 
die im Zustande vorübergehender Störung der Geistestätigkeit abgegeben wird, nichtig (105). 
Dies ist einzuschränken auf Störungen, die die „freie“ Willensbestimmung ausschließen 
(s. 104); denn auch ein ganz leichter Rausch „stört“ die Geistestätigkeit, z. B. das Sprach- 
vermögen; und doch wird man nicht jede Willensäußerung eines leicht Berauschten für nichtig 
erklären. 
Mit der ausdehnenden Auslegung einer Rechtsregel darf die bereits früher besprochene 
Bildung einer neuen Rechtsregel nach Analogie einer alten? nicht verwechselt werden. 
Denn jene leitet aus der auszulegenden Rechtsregel nur das ab, was der Unheber der Regel 
sich bei ihr in Wirklichkeit gedacht hat; diese folgert dagegen aus der analog anzuwendenden 
Regel Rechtssätze, die der Urheber der Regel gar nicht hat aufstellen wollen, sei es, daß sie 
ihm nicht eingefallen sind, sei es, daß sie ihm zweifelhaft erschienen. 
Ebensowenig ist es reine „Auslegung“, wenn man eine Gesetzesformel, deren Sinn 
den gesetzgebenden Organen selber nicht klar geworden ist, zu einem klaren Sinn zu ver- 
helfen sucht. Denn die Auslegung kann wohl aus einer Regel, die klar gedacht, aber unklar 
ausgedrückt ist, einen klaren Sinn gewinnen, nicht aber auch aus einer unklar gedachten 
Regel: aus einem Brunnen, in dem kein Wasser ist, kann man auch kein Wasser schöpfen; 
man muß also, wenn man darauf besteht, aus diesem Brunnen Wasser zu holen, es erst 
selber hineingießen. Genauer ausgedrückt: eine unklar gedachte Rechisformel kann vielleicht 
in siebzehnfach verschiedener Art verstanden werden; alsdann sind diese siebzehn Be- 
deutungen durch gewöhnliche Auslegung zu ermineln und sind für die Gerichte insofern 
bindend, als sie der Formel — von Ausnahmefällen abgesehen — nicht etwa einen acht- 
zehnten ihr sicher fremden Sinn beilegen dürfen; gilt es nun aber, unter den siebzehn 
möglichen Bedeutungen die endgültige Wahl zu treffen, so ist das keine Rechtsauslegung 
mehr, sondern Rechtebildung, bei der als Richtschnur entweder wiederum die Rechtsanalogie 
oder aber das Bedürfnis des Rechtslebens dienen muß. Hierher gehörige Beispiele aus 
dem BG#. sind die Formeln, in denen die Ausdrücke „höhere Gewalt“, „Geschäftebesorgung“, 
„verursachen“ vorkommen; es ist eitel Selbsttäuschung, wenn 2dZemand denkt, diese Formeln 
mit ihren je „siebzehn"“ möglichen Bedeutungen im Wege bloßer Auslegung verwerten 
zu können. 
2. a) Sehr häufig erwächst dem Ausleger der Gesetze dadurch eine 
Schwierigkeit, daß in zwei Gesetzen von gleichem Rang und Alter oder gar 
in einem und demselben Gesetz widersprechende Bestimmungen vorkommen. 
Wie er solcher „Antinomien“ Herr zu werden hat, kann bloß von Fall zu 
Fall gezeigt werden. Als besonders wichtig sei hier der Fall erwähnt, daß 
der Tatbestand der einen Bestimmung weiter ist als der der andern und dem- 
gemäß die erstere als die allgemeine Regel (lex generalis), die letztere als 
die Sonderregel (lex specialis) angesehn werden kann: der Widerspruch der 
beiden Regeln kann hier fast immer durch einschränkende Auslegung der allge- 
meinen Regel gehoben werden, indem angenommen wird, daß die allgemeine 
Regel nur unter dem stillschweigenden Vorbehalt von Ausnahmen gelten will 
und die Sonderregel eben eine solche stillschweigend vorbehaltene Ausnahme 
ist; auf diese Weise erhält also die Sonderregel in ihrem engen Bereich 
gewissermaßen den Vorrang vor der allgemeinen Regel (lex Specialis derogat 
general:). 
b) Ganz anders ist die Rechtslage, wenn die widersprechenden Be- 
stimmungen sich in zwei Gesetzen gleichen Ranges, aber verschiedenen Alters 
finden. Denn hier löst sich in der großen Mehrzahl der Fälle der Widerspruch 
3) Siehe oben § 8 und § 11.
	        
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