§* 12. Widerspruch zweier Rechtsregeln. Lex generalis u. specialis. 37
ganz von selbst durch den Satz: die jüngere Regel geht bei Gleichheit des
Rangs der älteren vor (lex posterior derogat priori).“"äDoch kann eine
Ausnahme Platz greifen, wenn eine der Regeln allgemeiner Art, die andre
aber eine Sonderregel ist: die allgemeine Regel läßt nämlich, auch wenn sie
die jüngere ist — zwar nicht immer, aber doch unter Umständen — der
Sonderregel den Vorrang (lex prior specialis derogat legi posteriori
generali). Der Grund hierfür ist, daß die jüngere allgemeine Regel die
ältere Sonderregel unter Umständen 5 bloß als eine für einen engeren Tat-
bestand geltende Ausnahme von ihren eignen Vorschriften ansieht und, da sie
ja überhaupt nur mit dem stillschweigenden Vorbehalt von Ausnahmen gelten
will, auch diese ältere „Ausnahme" stillschweigend in Kraft beläßt.
Beispiele. I. Wenn mehrere Personen eine teilbare Leistung schulden, so verfügt das
B##. 1. „allgemein“, daß jeder Schuldner im Zweifel nur zu einem gleichen Anteil verpflichtet
sein soll (420), 2. „speziell“, daß, wenn die Verpflichtung auf einem Vertrage beruht, die
Schuldner im Zweifel als Gesamtschuldner haften (427). Der Widerspruch ist dahin zu lösen,
daß die Sonderregel (427) ihrem Wortlaut gemäß nur auf vertragsmäßige, die allgemeine
Regel (420) ihrem Wortlaut entgegen nur auf nicht vertragsmäßige Verpflichtungen zu beziehn ist.
II. Das RGes. v. 12. Mai 94 § 14 betreffend den Schutz der Warenbezeichnungen bestimmt,
daß, wer ein Warenzeichenrecht wissentlich oder grobfahrlässig verletzt, schadensersatzpflichtig
sein soll, woraus von selbst folgt, daß der Täter bei nur geringer Fahrlässigkeit haftfrei ist;
dagegen bestimmt das BGB., daß, wer widerrechtlich irgend ein Recht auch nur mit geringer
Fahrlässigkeit verletzt, zum Schadensersatz verpflichtet ist (823, 276). Hier ist die ältere Regel
des Warenzeichengesetzes lex specialis, die jüngere Regel des BGBs ist lex generalis. Daß
jene den Vorrang vor dieser haben soll, ist zweifellos.
3. Eine Auslegungsschwierigkeit andrer Art entsteht, wenn ein Gesetz
irgendeine Regel für einen Einzelfall aufstellt, ohne zu sagen, welche Regel
für andre ähnliche Fälle gelten soll. Hier ist nämlich ein Doppeltes möglich.
Erstlich mag das Gesetz die Regel auf jenen Einzelfall nur deshalb beschränkt
haben, weil er dem Gesetzgeber besonders wichtig oder schwierig schien; über
die andern Fälle sich zu äußern glaubte der Gesetzgeber keinen Anlaß zu
haben. Zweitens kann aber das Gesetz die Regel auf jenen Einzelfall auch
deshalb beschränkt haben, weil der Gesetzgeber ihn für so eigenartig hielt, daß
er ihm nur durch eine eigenartige Behandlung gerecht zu werden glaubte.
Welche dieser beiden Bedeutungen die Regel hat, ist durch gewöhnliche Aus-
legung zu ermitteln. Das Ergebnis der Ermittlung ist von großer Bedeutung.
a) Hat das Gesetz seine Regel auf den Einzelfall nur deshalb beschränkt,
weil es ihn für besonders wichtig oder schwierig hielt, so kann man die Regel
analog auch auf andre Fälle ausdehnen: indem man annimmt, daß das
Gesetz durch die Feststellung der Regel für jenen Einzelfall ein allgemeines
Prinzip „zunächst“ für diesen Fall anerkannt habe, kann man ebendiese Fest-
stellung, so beschränkt sie ist, doch als Argument zugunsten einer analogen An-
wendung der Regel auf andre Fälle verwerten.
b) Hat dagegen das Gesetz seine Regel auf den Einzelfall deshalb be-
4) Siehe oben § 9. 5) Apodiktischer Zitelmann, Grundriß S. 11.