Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

40 Buch I. Abschnitt 1. Die Rechtsregeln. 
sich anläßlich jener Verhandlungen in der Stadtverordneten-- oder Generalversammlung ab- 
spielen? Kann, wenn der Vertrag schließlich zustande kommt, eine Rußerung, die in einer 
solchen Debatte gefallen und durch die Zeitungen gegangen ist, zur Vertragsauslegung ver- 
wandt werden, auch wenn ich von jener Außerung erst nachträglich Kenntnis erlangt habe? 
Um die Bedeutung der Außerungen, die im Vorstadium der Gesetzgebung fallen, richtig 
einzuschätzen, muß man sich vor allem gegenwärtig halten, daß sie immer nur die Meinung 
eines einzigen bei der Gesetzgebung beteiligten Organs und nicht eiwa die Meinung „des“ 
Gesetzgebers wiedergeben. Die Annahme, daß etwa die übrigen Gesetzgebungsorgane durch 
ihr Stillschweigen sich jene Außerungen aneigneten, wäre eine gewaltsame Fiktion. So haben 
z. B. die allermeisten Reichstagsabgeordneten 1896 weder die Motive zum BGB. noch die 
Protokolle der zweiten Kommission gelesen; nichts spricht dafür, daß sie trotzdem in gewissen- 
loser Indolenz den Inhalt der Motive und der Protokolle in Bausch und Bogen gutgeheißen 
hätten; in Wirklichkeit haben sie vielmehr lediglich den Wortlaut der ihnen vorgelegten 
Entwürfe, so wie ein jeder ihn verstand oder nicht verstand, genehmigt, in dem naiven 
Vertrauen, daß etwaige Zweifel später von irgendjemandem irgendwie gehoben werden 
würden. 
Will man trotzalledem auf die Vorarbeiten zu den Gesetzen eingehn, so muß man wenig- 
stens genau zusehn, ob sie dem endgültigen Gesetzestext nahe stehn oder nicht. Daraus ergibt 
sich z. B., daß unter den Vorarbeiten zum BGB den „Protokollen“ der zweiten Kommission ein 
verhältnismäßig hoher Wert zukommt; denn diese Protokolle beziehn sich auf den zweiten 
Entwurf des BGB.s, der sich von dessen endgültigem Text bloß in einigen Einzelheiten 
unterscheidet; bedauerlich ist nur, daß die Protokolle nie die Namen der Antragsteller und 
Redner angeben. Im Gegensatz dazu ist der Wert der „Motive“ ein sehr geringer; denn 
sie gelten ja dem ersten Emwurf des BGB.s, der nach Sprache und Inhalt von dem 
fertigen Gesetzestext grundsätzlich verschieden ist; dazu kommt, daß die Motive niemals Gegen- 
stand einer Abstimmung der ersten Kommission gewesen sind und deshalb nicht einmal die 
Meinung dieser Kommission, sondern nur die Meinung einiger weniger Kommissionsmit- 
glieder authentisch wiedergeben, und daß sie zum Teil — namentlich im dritten Bande — 
wissenschaftlich auf einer sehr niedrigen Stufe stehn; es ist also geradezu unverständlich, wenn 
man diesen „Motiven“ trotzdem immer und immer wieder eine autoritative Bedeutung bei- 
zulegen sucht. 
Die Praxis unfrer Gerichte verhält sich gegenüber der „Entstehungsgeschichte“ der 
Gesetze sehr verschieden: bald geht sie mit schwerfälliger Pseudogelehrsamkeit auf sie ein und 
unterwirft sich blindlings der Autorität von Motiven, Denkschriften u. dgl.; bald ist sie 
kritischer gestimmt und erklärt, daß nur der endgültig festgestellte Wortlaut der Gesetze für 
sie maßgebend sei. Ahnlich prinziplos verfährt oft genug die Theorie: viele Theoretiker legen 
den Motiven, Denkschriften usw. die größte Autorität bei, solange diese mit ihren eignen 
Theoremen übereinstimmen, schieben sie aber sofort nachlässig beiseite, sobald es an solcher 
Übereinstimmung mangelt. 
III. Inländisches und ausländisches Recht.“ 
8 13. 
Indem die Regeln des deutschen bürgerlichen Rechts sich selber Geltung in 
Deutschland beilegen, scheinen sie ebendadurch stillschweigend die Anwendung 
1) Niemeyer, positives internationales Privatrecht (94); ders., Vorschläge u. Materialien 
z. Kodifikation des internat. Pr.s (95); ders., d. internat. Pr. des BGB.s (01); Neumann, 
internat. Pr. (96); ders. bei Gruchot 46 S. 67; Kahn, Jahrb. f. Dogm. 30 S. 1, 39 S. 1, 
40 S. 1, 42 S. 309; 43 S. 299; Zitelmann, internat. Pr. J, II, 1, 2 (97, 98, 03); Meili,
	        
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