Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

48 Buch I. Abschnitt 2. Die Rechtsregeln. 
IV. Neues und altes Recht.7 
814. 
Indem die Regeln des jetzigen deutschen bürgerlichen Rechts ihre Geltung 
vom 1. Januar 1900 oder irgend einem andern Zeitpunkt ab datieren, scheinen 
sie ebendadurch die Anwendung der abweichenden Regeln des bisherigen Rechts 
von diesem Zeitpunkt ab stillschweigend auszuschließen. In Wirklichkeit ist aber 
das jetzige Recht von einer derartigen Ausschließlichkeit weit entfernt, läßt sich 
vielmehr die Konkurrenz des bisherigen Rechts noch gegenwärtig und auch für 
die Folgezeit unbedenklich gefallen. Doch ist es selbstverständlich darauf be— 
dacht, daß nicht aus der konkurrierenden Geltung des jetzigen und des bis- 
herigen Rechts in dem nämlichen Zeitraum eine Kollision beider Rechte er- 
wachse. Es hat demgemäß sogenannte Ubergangsvorschriften aufgestellt, 
die genaue Auskunft darüber geben, wieweit seit dem Inkrafttreten des neuen 
Rechts das Anwendungsgebiet eben dieses neuen und neben ihm das An- 
wendungsgebiet des bisher in Geltung gewesenen alten Rechts reicht. Diese 
UÜbergangsvorschriften bilden offensichtlich ein Seitenstück zu den im vorigen 
Paragraphen besprochenen Kollisionsnormen des deutschen internationalen Pri- 
vatrechts und mögen im Gegensatz zu ihnen unter dem Namen deutsches inter- 
temporales Privatrecht? zusammengefaßt werden. 
I. Ein allgemeines Charakteristikum der Übergangsvorschriften des inter- 
temporalen Privatrechts ist, daß sie, obschon sie nebeneinander die Anwendung 
neuen und alten Rechts zum Gegenstande haben, doch selber einzig und allein 
neues Recht enthalten. Das will besagen: das alte Recht gilt seit dem In- 
krafttreten des neuen Rechts gerade so weit, als das neue Recht es will, 
nicht mehr und nicht weniger. 
II. 1. An die Spitze der Übergangsvorschriften ist folgende allgemeine 
Regel zu stellen, die man als das Prinzip des intertemporalen Pri- 
vatrechts bezeichnen kann: die rechtliche Wirksamkeit jeder Tatsache ist nach 
dem Recht ihrer eignen Zeit zu beurteilen, also nicht nach dem Recht der Zeit, 
für die eine bestimmte Wirkung jener Tatsache behauptet wird, sondern nach 
dem Recht der Zeit, der die Tatsache selber angehört. Aus diesem Prinzip 
ergeben sich folgende drei Normen: 
a) Die Wirkungen eines Tatbestandes, der zeitlich ganz unter die Herrschaft 
des alten Rechts fällt, folgen ausschließlich dem alten Recht: der Tatbestand 
wirkt also, auch wenn seitdem ein gänzlich abweichendes neues Recht in Kraft 
getreten ist, gerade so stark oder so schwach, als das alte Recht es bestimmt. 
1) Affolter, Geschichte des intertemporalen Privatrechts 1 (02); ders., System des d. 
bürgerl. übergangsrechts (03); Habicht, Einwirkung des BGBs auf zuvor entstandene Rechts- 
verhältnisse, 3. Aufl. (O1); K. Lehmann, Ztschr. f. Handelsrecht 48 S. 1. 
2) Affolter in den beiden in Anm. 1 genannten Schriften.
	        
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