Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Zweiter Band. Das Sachenrecht. - Das Recht der Wertpapiere. - Das Gemeinschaftsrecht. - Das Recht der juristischen Personen. - Das Familienrecht. - Das Erbrecht. (2)

8 193f. Inhabung. Besitzdienerschaft. 101 
letzterem Fall zwei Besitzer, ein Ober= und ein Unterbesitzer, beteiligt, während 
in ersterem Fall der eine Beteiligte Alleinbesitzer, der andre Nichtbesitzer ist. 
Demgemäß werden beide Fälle ihrer Ähnlichkeit ungeachtet nicht etwa analog, 
sondern in den meisten Beziehungen geradezu entgegengesetzt behandelt. Im 
einzelnen sei über die Rechtsstellung des Inhabers und des von ihm ver- 
tretenen unmittelbaren Besitzers folgendes bemerkt: 
1. a) Wie die Inhabung erlangt wird, ist Tatfrage. Die Übertragung 
einer vorhandenen Inhabung durch Vertrag und ihre Vererbung sind aus- 
geschlossen. 
b) Will der Inhaber einer Sache an ihr unmittelbaren Besitz erwerben, 
so gelten dieselben Regeln wie beim Besitzerwerbe durch einen Nichtinhaber. 
Demnach genügt es nicht, daß er den Entschluß faßt, fortab Besitzer der Sache 
zu sein — man pflegt in diesem Zusammenhange auf den verwandten Satz des 
römischen Rechts: nemno sibi causam possessionis mutare potest hinzuweisen —, 
sondern er muß der Regel nach entweder einen einseitigen Besitzergreifungsakt 
pornehmen oder sich mit dem bisherigen unmittelbaren Besitzer über den Besitz- 
erwerb vertragsmäßig einigen. 
e) Findet eine Einigung der eben genannten Art statt, so hat sie den 
recttlichen Charakter einer Übergabe, obschon der Inhaber die ihm zu über- 
gebende Sache bereits in Händen hat; um sie von der gewöhnlichen Ubergabe 
an einen Nichtinhaber zu unterscheiden, pflegt man sie Ubergabe kurzer 
Hand (traditio brevi manu) zu nennen. Dagegen liegt umgekehrt in dem 
Fall, in dem jemand eine in seiner Inhabung befindliche Sache in eignem 
Namen einem andern zu unmittelbarem Besitz ausliefert, eine echte Ubergabe 
nicht vor, da eine solche nur von einem wirklichen Besitzer vorgenommen 
werden kann; vielmehr hat der Besitzerwerb des andern in diesem Fall den 
rechtlichen Charakter einer einseitigen Besitzergreifung, bei der die Mitwirkung 
des Inhabers lediglich als tatsächliche Beihülfe in Betracht kommt. 
Beispiele. I. A. hat auf seinem Gut dem Inspektor B. auf dessen Dienstzeit und dem 
Vorbesitzer C. auf dessen Lebenszeit eine Wohnung überlassen. Hier ist B. nur Inhaber, 
C. i#t Besitzer der Wohnung; stirbt B. oder C., so rücken zwar die Erben C.s in seinen 
VBesitz, nicht aber auch B.# Erben in seine Inhabung ein. II. In dem eben genannten Fall 
schrelbt B. dem A., daß er nicht zufrieden sei, bloßer Inhaber der Inspektorwohnung zu 
sein, sondern dieselbe Rechtsstellung wie ein Mieter haben wolle und demgemäß hiermit den 
Besitz der Wohnung ergreife; 14 Tage später setzt A. den B., nachdem er ihm zuvor wegen 
grober Pflichtverlevungen den Dienst rechtmäßig gekündigt hat, gewaltsam aus der Woh- 
mug; B. macht darauf den Anspruch wegen Besitzentziehung durch verbotene Eigenmacht 
geltend und verlangt sofortige Wiedereinräumung der Wohnung. Hier ist B. im Unrecht; 
denn seine Erklärung hatte tatsächlich nicht die Kraft, ihm eine „dauernde Herrschaft über 
die Wohnung zu verschaffen, genügte also nicht als einseitige Besitzergreisfung; B. ist dem- 
nach trot seiner großen Worte bloßer Inhaber geblieben. III. 1. D. macht seinem Diener 
C eine seiner Dienstlivreen zum Geschenk. Hier liegt eine echte Ubergabe vor, auch wenn 
Ellie Livree im Augenblick der Übergabe anhatte; denn E. ist nunmehr aus einem In- 
haber zum Besitzer geworden. 2. Dagegen würde keine echte Übergabe vorliegen, wenn E. 
enne andre Lüvree, die der Dienstherr ihm nicht geschenkt hatte, dem neu eintretenden zweiten 
Diener F. seinerselts schenken würde, auch wenn er sie ihm dabei aushändigt; denn als
	        
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