Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Zweiter Band. Das Sachenrecht. - Das Recht der Wertpapiere. - Das Gemeinschaftsrecht. - Das Recht der juristischen Personen. - Das Familienrecht. - Das Erbrecht. (2)

102 Buch III. Abschnitt 2. Besitz und Inhabung. 
bloßer Inhaber der Livree kann E. sie dem F. nicht übergeben, sondern muß zuvor selber 
Besitzer werden. Hierzu genügt aber, solange die Livree im Hause des Dienstherrn bleibt, 
eine Handlung, wie E. sie vorgenommen hat, keineswegs. 
2. a) Die Besitzansprüche stehn dem Inhaber nicht zu. Wenn also jemand, 
der eine Sache als Vertreter eines unmittelbaren Besitzers innehat, mit diesem 
in Streit gerät, so wird der unmittelbare Besitzer um seines Besitzes willen 
gegen den Inhaber, nicht aber auch der Inhaber um seiner Inhabung willen 
gegen den unmittelbaren Besitzer geschützt. 
Beispiel. In dem oben S. 101 unter I, II genannten Fall hat A. den B. und C. wegen 
angeblicher Verletzung ihrer Vertragspflichten gewaltsam aus der Wohnung gewiesen: beide 
suchen ebenso gewaltsam wieder in die Wohnung einzudringen. Hier hat C. gegen A. den 
Anspruch wegen Besitzentziehung; umgekehrt hat A. gegen B. den Anspruch wegen Besitzstörung. 
b) Ebenso sind Besitzansprüche, die gegen den jeweiligen Besitzer einer 
Sache gerichtet sind, gegen einen bloßen Inhaber der Sache nicht gegeben. 
Beispiele. A. hat ein an sein Gut k anstoßendes Feld y eigenmächtig dem Besitzer B. 
weggenommen; nun ist A. gestorben und von dem minderjährigen C. beerbt; im Namen des 
C. wird samt y von seinem mit dem Sachverhalt bekannten Vormunde D. bewirtschaftet. 
Hier kann B. auf Herausgabe des Feldes klagen: I. wenn man den D. nur als Inhaber 
ansieht, bloß gegen C: als alleinigen Besitzer; II. wenn man ihn als Besitzer ansieht, so- 
wohl gegen D. als Unter-, wie gegen C. als Oberbesitzer. 
c) Büßt ein durch einen Inhaber vertretener unmittelbarer Besitzer seinen 
Besitz dadurch ein, daß der Inhaber die Sache rechtswidrig fortwirft oder in 
den unmittelbaren Besitz eines andern bringt, so gilt die Sache als dem erst- 
genannten unmittelbaren Besitzer abhanden gekommen, so daß dieser ihre Heraus- 
gabe von jedem späteren Besitzer ohne Rücksicht auf dessen guten Glauben 
for dern kann, es sei denn, daß es sich um Geldstücke, Inhaberpapiere u. dgl. 
handelt. 
Beispiele. I. A. in M. hat als Vormund der minderjährigen B. deren ererbte Schmuck- 
sachen in Verwahrung genommen und hebt sie in seinem Geldschrank auf; nun siedelt er 
nach N. über und trägt seiner dreißigjährigen zu seinem Hausstande gehörigen Tochter C. auf, 
ihm, nachdem er selber den übrigen Umzug besorgt, nachzukommen und dabei die: Schmuck- 
sachen der B. mitzubringen; die C. veräußert aber ungetreuerweise die ihr auvertrauten. 
Sachen an den gutgläubigen D. Hier kann die B. die Herausgabe der Sachen als ihr ab- 
handen gekommener von D. fordern; denn die C. war bloße Inhaberin des Schmucks. Daß 
gerade in der Zeit, als sie den Schmuck in ihrer Obhut hatte, der Hausstand ihres Vaters 
vorübergehend aufgelöst war und daß sie deshalb damals vielleicht für sich allein im Gasthause 
wohnte, ändert an dieser Entscheidung nichts. II. Derselbe Fall; nur hat A. der Unter- 
schlagung seiner Tochter im eignen Namen zugestimmt. Hier darbt die B. eines Herausgabe- 
anspruchs gegen D.; denn A. war Besitzer der Sachen. 
Die Regel zu c. ist von allergrößter Wichtigkeit. Trotzdem hat sie der Gesetzgeber mit 
einer Naivetät, die eines gewissen Reizes nicht entbehrt, mit Stillschweigen übergangen: man 
kann sie nämlich aus dem Gesetz nur herauslesen, wenn man das vom Gesetz gebrauchte, von 
uns schon wiederholt kritisierte Orakelwort „abhanden kommen“ von vornherein so auslegt, 
daß jene Regel sich als logische Folgerung von selbst daraus ergibt. Legt man das Wort 
1) Endemann II, 1 S. 241b. Abw. Gärtner (angeführt oben S. 71) S. 179. 
2) RG. 71 S. 249.
	        
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