104 Buch III. Abschnitt 2. Besitz und Inhabung.
Rezeption wurde aber der Begriff des mittelbaren Besitzes fallen gelassen und
der Grundsatz aufgestellt, daß an einer und derselben Sache immer nur ein
einziger Sachbesitz möglich sei; der Begriff des Fremdbesitzes und der In-
habung wurde dagegen beibehalten, jedoch so, daß die Inhabung eine weit
größere Rolle spielte als der Fremdbesitz: insbesondre wurde zwar der Pfand-
gläubiger und der Sequester als Fremdbesitzer, dagegen der Mieter, der Ver-
wahrer nur als Inhaber angesehn.“ Von den neueren Gesetzbüchern kam das
preußische Landrecht auf die altdeutsche Auffassung zurück. 5
II. Für den Besitzerwerb und Besitzverlust scheint das altdeutsche Recht
ähnliche Regeln aufgestellt zu haben wie das bürgerliche Gesetzbuch.“ Dagegen
kam seit der Rezeption die Lehre auf, daß der Besitzerwerb auf seiten des Er-
werbers den Besitzwillen (animus) sowie die gegenwärtige tatsächliche Gewalt
über die Sache (corpus) voraussetze. Daraus ergab sich unter anderm, daß
Kinder unter sieben Jahren den Besitz nicht selbständig erwerben konnten und
daß der Besitz als unvererblich galt.“ Hieran hielten auch die neueren Gesetz-
bücher fest; nur der code civil blieb der altdeutschen Vererblichkeit des Be-
sitzes treu.?
III. 1. Besitzanspüche sind im altdeutschen Recht nur an Fahrnis aner-
kannt. Dagegen gab der Besitz an Grundstücken wohl mancherlei rechtliche
Vorteile, namentlich bei der Beweisführung, weshalb in den Grundstückspro-
zessen der Streit um die „Gewere“ eine große Rolle zu spielen pflegte, nicht
aber ein selbständiges Recht; hätte im Mittelalter ein Grundstücksbesitzer einen
Prozeß angestrengt, der ausschließlich auf seinen Besitz und nicht zusätzlich auf
Eigentum, Lehnrecht u. dgl. gegründet wäre, so hätte er ihn notwendig ver-
lieren müssen.? Erst seit der Rezeption sind die Besitzansprüche auch auf
Grundstücke ausgedehnt.
2. a) Von den Besitzansprüchen sind die kurzfristigen erst seit der
Rezeption — dem römisch-kanonischen Recht folgend — in Deutschland ein-
geführt.!é Und zwar stimmten diese römisch-kanonischen Besitzansprüche im
ganzen mit denen des bürgerlichen Gesetzbuchs überein. Von Abweichungen
ist zu nennen, daß das bisherige gemeine Recht den Einwand des fehlerhaften
Besitzes nur gegen den Anspruch wegen Besitzstörung (interdictum uti possi-
detis), nicht auch gegen den Anspruch wegen Besitzentziehung (interdictum
unde vi, actio spolii) zuließ 11 und daß das französische Recht beide Ansprüche
auf den Besitz an Grundstücken beschränkte.12
Eine fernere Eigentümlichkeit des bisherigen gemeinen Rechts war das „summariissi-
mum“: wenn zwei Parteien in Ansehung einer Sache tatsächlich widerstreitende Besitzhand-
4) Dernb. 1 8§8 173, 174. 5) Pr. LR. I, 7 § 124.
6) Siehe Stobbe-Lehmann II, 1 S. 206.
7) Windscheid-Kipp 88 153 ff. 8) C. c. 724.
9) Stobbe-Lehmann II, 1 S. 209 ff., 252, 256; Hübner S. 193.
10) Gierke, Fahrnisbesitz S. 14.
11) Windscheid-Kipp 1 S. 7150, 726 0. 12) Förtsch S. 62.