Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Zweiter Band. Das Sachenrecht. - Das Recht der Wertpapiere. - Das Gemeinschaftsrecht. - Das Recht der juristischen Personen. - Das Familienrecht. - Das Erbrecht. (2)

§ 210. Nachbarrecht; Bäume an und auf der Grenze. 159 
bleiben, mag er auch empfindlich unter ihnen leiden. Ragen die Bäume da- 
gegen mit ihren Zweigen oder Wurzeln über die Grenze fort, so braucht er 
sich diese Grenzüberschreitung nur dann gefallen zu lassen, wenn sie sein 
Grundstück in keiner Weise beeinträchtigt (910). Neigen die Bäume endlich 
mit dem Stamm über die Grenze, so kann er auf ihrer Entfernung unbedingt 
bestehn (s. 903). 
Dabei gilt aber noch folgende Unterscheidung: überragende Wurzeln darf er eigen- 
mächtig abschneiden und behalten; überragende Zweige darf er erst dann eigenmächtig ab- 
schneiden und behalten, nachdem er zuvor den Besitzer des Baums unter Bewilligung einer 
angemessenen Frist zu deren Beseitigung vergeblich aufgefordert hat; gegen den überneigen- 
den Stamm endlich hat er gar kein Recht der Eigenmacht, sondern muß seinethalb mit dem 
Besitzer prozessieren und ihm auch das Holz belassen (s. 910 I, 907 II, 903, 858 I). 
b) Solange ein überragender Zweig oder ein überneigender Stamm vom 
Nachbarn geduldet wird, verbleibt ihr Alleineigentum dem Eigentümer des 
andern Grundstücks. Und auch an der Nutzung des Baums hat der Nachbar 
keinen Anteil: insbesondre darf er das Obst, das an einem überragenden Zweige 
hängt, nicht abpflücken, geschweige denn den Zweig schütteln. 
Sonach steht die Nutzung des überragenden Zweiges allein dem Besitzer des Stamms 
zu; nur darf er zu diesem Zweck nicht den Boden des Nachbargrundstücks betreten, sondern 
muß in solcher Höhe darüber bleiben, daß der Nachbar dadurch nicht leidet (s. 905). 
2. Das Landesrecht kann die Regeln zu 1 bezüglich der Obstbäume ändern, 
insbesondre den Nachbarn zur Duldung überragender Zweige und Wurzeln 
nötigen (EG. 122; württemb. AusfGes. 241); bezüglich aller Bäume kann es 
vorschreiben, daß sie nur in einem gewissen Mindestabstande von der Grenze 
gepflanzt oder gehalten werden dürfen (EG. 124; c. c. 671; pr. Auss Ges. 89 
Nr. 2 usw.). 
VIII. Besondre Regeln gelten für Büäume auf der Grenze“, d. h. 
für Bäume, die an der Stelle, wo sie dem Erdboden entwachsen, von der 
Grundstücksgrenze durchschnitten werden, sei es nun, daß sie von vornherein 
auf der Grenze gepflanzt oder erst allmählich darüber hinausgewachsen sind. 
1. Kein Nachbar braucht einen Baum auf der Grenze zu dulden, außer 
wenn er als Grenzzeichen unersetzlich ist; allerdings darf er ihn nicht eigen- 
mächtig fällen; wohl aber kann er von dem andern Nachbarn fordern, daß 
er zur Fällung mitwirke; ist der Baum gefällt, so gehört er fortab beiden 
Nachbarn gemeinsam, und zwar zu gleichen Anteilen, mag auch die Grenzlinie 
den Stamm vormals in sehr ungleiche Teile zerlegt haben (923 II). 
Natürlich müssen die Nachbarn auch die Kosten der Fällung zu gleichen Teilen tragen. 
Doch kann jeder Nachbar schon vor der Fällung des Baums auf sein Halbteilsrecht daran 
verzichten; alsdann wird er auch von seiner Kostenhälfte frei, es sei denn, daß er selber es 
ist, der die Fällung fordert (I23 I). 
Für Obstbäume auf der Grenze kann das Landesrecht die Regel zu 1 ausschließen, 
also die Nachbarn zur Duldung verpflichten (EcG. 122); wie es scheint, haben die Landes- 
gesee von dieser Ermächtigung bisher keinen Gebrauch gemacht. 
14) Ortloff, Arch f. B. 17 S. 234.
	        
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