Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Zweiter Band. Das Sachenrecht. - Das Recht der Wertpapiere. - Das Gemeinschaftsrecht. - Das Recht der juristischen Personen. - Das Familienrecht. - Das Erbrecht. (2)

§ 293. Begriff der juristischen Person. 485 
und alle Pflichten des Familienrechts verschlossen, und auch auf den andern 
Gebieten des Privatrechts erleiden sie mancherlei Beschränkungen. 
Beispiele. I. 1. Eine juristische Person kann nicht nur keine Kinder zeugen, sondern 
kann auch niemand an Kindes Statt annehmen. 2. Sie kann nicht Vormund sein und nicht 
bevormundet werden. II. Landesrechtlich kann ihre Fähigkeit, Vermögen zu erwerben, 
mannigfach beschränkt werden (E. 86). 
JP) Ist es richtig, daß eine juristische Person nichts andres als eine rechts= und ver- 
pflichtungsfähige „Anstalt“ ist, so ist klar, daß sie kein Naturerzeugnis darstellt, wie der 
Mensch, sondern ein vom menschlichen Geist — bewußt oder unbewußt — geschoffenes Kunst- 
werk ist. Es ist deshalb ganz richtig, wenn man im Gegensatz zu ihr den Menschen als 
„natürliche“ oder mit verschwenderischer Gelehrsamkeit als „physische" Person bezeichnet. 
Irreführend ist dagegen ihre eigne Benennung als „juristische“ Person. Denn diese wäre 
haltbar nur, wenn, wie der Mensch von der Natur, so sie selber vom Recht neu hervor- 
gebracht wäre. Davon kann aber keine Rede sein. Vielmehr wird die Anstalt, die wir 
juristische Person nennen, zunächst unabhängig vor aller Jurisprudenz lediglich kraft der 
Neigung der Menschen zum Organisieren ins Leben gerufen; das Recht findet sie also, wenn 
es von ihr Kenntnis nimmt, gerade so fertig vor wie den Menschen.? Freilich findet es sie 
zunächst als nicht rechtsfähige Anstalt vor und hebt sie, indem es ihr die Rechtsfähigkeit 
verleiht, von einer niedrigern auf eine höhere Daseinsstufe. Genau dasselbe ist aber auch bei 
den Menschen der Fall: auch sie sind nicht von Begriffs wegen rechtsfähig, sondern haben 
die Rechtsfähigkeit erst vom Recht bekommen und sind dadurch zu einer höhern Daseinsstufe 
aufgestiegen. Wenn man die rechtsfähige Anstalt wegen der ihr vom Recht verliehenen 
Rechtsfähigkeit eine juristische Person nennt, müßte man folgerecht aus dem nämlichen Grunde 
den Menschen gerade ebenso benennen. Richtiger wäre es, wenn man die natürlichen 
Personen einfach „Menschen“ nennte, und statt von juristischen Personen von „Anstalts- 
personen“ spräche. 
d4) Die zu c vertretene Auffassung kann man auch folgendergestalt ausdrücken: die 
juristische Person hat im Gegensatz zu der natürlichen Person des Menschen allerdings etwas 
Künstliches, aber nicht weil sie eine „rechtsfähige“ Anstalt, sondern weil sie überhaupt eine 
„Anstalt“ ist. Daß sie rechtsfähig ist, ist bei ihr gerade ebenso künstlich wie beim Menschen. 
Das wird besonders deutlich, wenn man sich in die Zeiten der Sklaverei zurückversetzt und 
eine nicht rechtsfähige, also nicht als Person geltende Anstalt mit einem nicht rechtssähigen, 
also gleichfalls nicht als Person geltenden Sklaven vergleicht: wenn der Sklave freigelassen 
und ihm damit die „natürliche“ Persönlichkeit verliehen wird, ist das dasselbe, wie wenn ein 
nicht rechtsfähiger Verein die „juristische" Persönlichkeit erwirbt; wenn ein freier Mann 
verknechtet wird und damit die „natürliche“ Persönlichkeit verliert, ist das dasselbe, wie wenn 
einem rechtsfähigen Verein die juristische Persönlichkeit entzogen wird. Daß uns heute die- 
Verleihung und der Verlust der juristischen Persönlichkeit doch als etwas Künstliches erscheint, be- 
ruht nur darauf, daß unser Recht die Verleihung der natürlichen Persönlichkeit so bewunderns- 
wert einfach — man möchte beinahe sagen, so unnatürlich einfach — ausgestaltet hat. Damit 
soll übrigens nicht geleugnet werden, daß der Einfluß des Rechts auf die juristischen Personen 
größer ist als auf die Menschen; jene sind ja Kunstprodukte und können deshalb den An- 
forderungen des Rechts besser angepaßt werden als diese. 
e) Über den Begriff der juristischen Person gibt es zahllose Theorien. Im folgenden 
seien diejenigen genannt, die am meisten Anhänger gefunden haben. I. Die Fiktionstheorie, 
die früher bei den Romanisten die unbedingt herrschende war 3, macht der juristischen 
Person als solcher die Realität streitig und führt sie lediglich auf eine gesetzliche Fiktion 
zurück. Ich entgegne: 1. Daß die Anstalten rein tatsächlich Realitäten, also keine Fiktionen 
oder Abstraktionen sind, sollte man nicht bestreiten. Mit dem gleichen Recht könnte man die 
Realität des Einzelmenschen, die Identität des Menschen von heut mit dem Menschen von 
2) Gierke, Genossenschaftstheorie (87) S. 23; Biermann, B. 1 S. 460. 
3) Windscheid 1 § 57.
	        
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