Die ästerreithisch-nngarische Monarqhie und die Nachfolzestaaten. (Okt. 30.— Nov. 1.) 95
regierung selbst im Einvernehmen mit dem Deutschen Reiche zu schließenden
Friedens erschweren könnte.
Am 30. treten auch das österr. Abg.-Haus und das Herrenhaus
zusammen; beide vertagen sich jedoch in Anbetracht der Lage, ohne in die
Tagesordnung einzutreten. Da es dem Ministerpräsidenten Dr. Lammasch
infolgedessen nicht möglich ist, seine beabsichtigte Erklärung abzugeben, ent-
wickelt er in der Obmännerkonferenz sein Programm, wobei er gegen den
Vorwurf des Treubruchs gegen das Deutsche Reich protestiert und feststellt,
daß die deutsche Regierung mindestens 24 oder 48 Stunden vorher von dem.
Schritt in Kenntnis gesetzt wurde, den die Regierung zu unternehmen ge-
nötigt war. (Näh. über die Erklärung j. i. d. „Nordd. Allg. Ztg.“ 1918 Nr. 558.)
Am 31. übernimmt der Staatsrat offiziell die Geschäfte. Minister-
präsident Lammasch teilt dem deutschen Nationalrat mit, er sei ermächtigt,
die Geschäfte der Regierung, soweit sie sich auf deutsche Siedlungsgebiete
beziehen, an den deutschösterr. Staatsrat zu übergeben. Graf Andrassy
erklärt, Minister des Aeußern bleiben zu müssen, weil gegenwärtig die
österr.-ung. Diplomatie nur als solche bei den Neutralen beglaubigt sei und
die verschiedenen Minister der deutschen und flawischen Nationalräte diplo-
matisch noch keine Anerkennung gesunden hätten. — Mit diesem Tage hört
das erst am 27. gebildete Kabinett Lammasch faktisch zu existieren auf;
die formelle Enthebung durch den Kaiser erfolgt erst am 11. Nov. (s. S. 102).
Der Staatsrat nimmt als Staatsfarbe für Deutschösterreich die
alte Babenberger Farbe rotweißrot an. Für Siegel und Embleme beschließt
der Staatsrat, da die Hauptklasse des Staates Bürger, Bauern und Ar-
beiter deutscher Nationalität sind, folgendes Sinnbild: ein auf einem Unter-
grund aus schwarzen Quadern aufgeführtes Stadttor, zwei gekreuzte goldne
Hämmer mit einem goldnen Kranz aus Roggenähren mit der Umschrift
„Deutschösterreich". — Am 1. Nov. legen die Truppen in den Wiener
Kasernen den Treueid auf den deutschösterr. Staat ab. Die k. k. Wehrmacht
löst sich in nationale Armeen auf.
30. Okt.—1. Nov. (Ungarn.) Ausbruch der Revolution, über-
gang der Regierungsgewalt auf den Ung. Nationalrat, Bildung der
ersten Volksregierung (Graf, Karolyi Ministerpräsident), Waffen-
streckung.
Am Abend des 30. beginnt in Budapest, vom Klubhause der Karolyi-
partei ausgehend, eine Umsturzbewegung, die in derselben Form wie in
Prag (s. S. 86) verlaufend den Ung. Nationalrat zum Träger der ge-
samten Regierungsgewalt macht. Nach Mitternacht wird Stadtkommandant
Feldmarschalleutn. Varkonyi zur Uebergabe der Militärgewalt gezwungen.
Sämtliche Behörden stellen sich dem Nationalrate zur Verfügung. Ernstliche
Ruhestörungen finden nicht statt. Nur Graf Stephan Tisza, gegen den
von soz. Seite wegen seiner angeblichen Schuld an dem Ultimatum an Ser-
bien (s. S. 79) besonders gehetzt wurde, wird am 31. in seiner Wohnung
von Soldaten erschossen.
Am Vormittag des 31. ernennt König Karl den Grafen Michael
Karolyi telephonisch zum Ministerpräsidenten und stellt ihm die gesamte
bürgerliche und militärische Gewalt zur Verfügung, um im Lande die Ord-
nung wieder herzustellen. Er ersucht ihn zugleich, ihm die Namensliste des
Kabinetts zu unterbreiten.
Mittags erläßt der Nationalrat folgende Proklamation: Volk
Ungarns! Soldaten! Arbeiter! Bürger! Das Volk Ungarns, seine Sol-
daten, seine Arbeiterschaft und seine Bürger haben die Gewalt Ungarns in