Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Zweiter Band. Das Sachenrecht. - Das Recht der Wertpapiere. - Das Gemeinschaftsrecht. - Das Recht der juristischen Personen. - Das Familienrecht. - Das Erbrecht. (2)

638 Buch VII. Abschnitt 3. Das Recht der ehelichen Kinder. 
vorausgesetzt, ein schweres Verschulden zur Last fällt, ja sogar dann, wenn 
die Eltern zur guten Erziehung des Kindes alles getan haben, was in ihren 
Kräften stand: die Fürsorgeerziehung tritt alsdann ein, nicht weil die Eltern 
der Erziehung nicht würdig, sondern weil sie nach den Verhältnissen dazu 
nicht fähig sind. Die Anordnung der Fürsorgeerziehung durch das Vormund- 
schaftsgericht ist nämlich außer in den zu a genannten Fällen zulässig: 
a wenn ein Kind unter zwölf Jahren eine Handlung begeht, die kriminell 
strafbar sein würde, falls das Kind zur Zeit der Tat strafmündig gewesen 
wäre (Straf Ges B. 55 1,, 
6) nach Landesrecht auch dann, wenn das Kind nur durch die Fürsorge- 
erziehung vor völligem sittlichen Verderben bewahrt werden kann (EG. 135; 
preuß. Ges. v. 2. Juli 1900).5 
Beispiel. Eine Witwe lebt mit einem mißratenen erwachsenen Sohn und einer zwölf- 
jährigen Tochter in ärmlichem, engem Haushalt zusammen; sie gibt sich alle Mühe, die 
Tochter gut zu erziehn; aber das böse Beispiel des Bruders droht alle mütterliche Sorge 
zu vereiteln. Hier kann für die Tochter die Fürsorgeerziehung in einer andern geeigneteren 
Familie angeordnet werden. 
In Preußen kann die Fürsorgeerziehung vom Vormundschaftsgericht nur für Kinder 
angeordnet werden, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (EG. 135; preuß. Ges. 
v. 2. Juli 1900 8 1). Die Ausführung der Anordnung liegt den Provinzen oder andern 
höheren Kommunalverbänden ob; insbesondre bestimmt der Kommunalverband, ob das Kind 
widerruslich in der elterlichen Familie belassen oder in einer andern geeigneten Familie 
untergebracht oder in eine Anstalt überführt werden soll; wird das Kind in der elterlichen 
Familie belassen oder in einer andern Familie untergebracht, so ist ihm von dem Kommunal= 
verbande ein „Fürsorger“ zu bestellen (preuß. Ges. v. 1900 §§ 2, 9, 10 II, 11). Die Für- 
sorgeerziehung kann von dem Kommunalverbande jederzeit widerruflich oder unwiderruflich 
aufgehoben werden; von selbst erlischt sie, wenn das Kind volljährig wird (preuß. Ges. v. 
1900 S 13). 
Verwandte Bestimmungen gelten in Bayern (Ges. v. 10. Mai 1902), Württemberg 
(Ges. v. 29. Dezemb. 1899), Baden (Ges. v. 16. Aug. 1900) usw. 
J) Schließlich kann die Fürsorgeerziehung für ein Kind auch vom Straf- 
gericht angeordnet werden, nämlich dann, wenn das Kind im Alter von 12 
bis 18 Jahren eine mit Kriminalstrafe bedrohte Handlung begangen hat, aber 
wegen Mangels der Einsicht in die Strafbarkeit der Handlung hat freigesprochen 
werden müssen (Straf GesB. 56 U.). 
5. Söhne und Töchter treten aus der elterlichen Sorge für ihre Person 
heraus, wenn sie das Alter der Volljährigkeit erreichen oder adoptiert werden, 
Töchter außerdem auch dann, wenn sie heiraten (s. 1626, 1633). 
6. Die vorstehenden Regeln zeigen, daß die Sorge der Eltern für die 
Person ihrer Kinder sich mit der elterlichen Gewalt über die Kinder nicht 
deckt. Denn es kann vorkommen, daß der Vater oder die Mutter jene Sorge 
zu tragen haben, obschon sie der elterlichen Gewalt darben; ebensogut ist aber 
auch das Umgekehrte möglich. 
5) Muskat, Arch. f. BR. 20 S. 265; Nölle ebenda 21 S. 86.
	        
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