70 Buch III. Abschnitt 2. Besitz und Inhabung.
I. 1. Der Erwerb eines bereits bestehenden Besitzes durch übergabe
(traditio) ist zum Teil schwerer, zum Teil leichter als der Erwerb neube-
gründeten Besitzes (854 11).
a) Er ist schwerer. Denn er setzt voraus, daß der Erwerber sich mit
dem bisherigen Besitzer durch dinglichen Vertragsschluß darüber einigt, daß
der Besitz des letzteren auf den ersteren übergehn solle.
b) Er ist leichter. Denn er erfordert nur, daß der Erwerber zur Zeit
seines Erwerbes „in der Lage ist, die tatsächliche Herrschaft über die Sache
auszuüben,“ nicht aber auch, daß er diese tatsächliche Herrschaft in jenem Zeit-
punkt auch wirklich „erlangt". Demnach braucht sich, anders als bei dem
Erwerbe neubegründeten Besitzes, der Erwerbsvorgang nicht in unmittelbarer
Gegenwart der Sache abzuspielen; und auch sonstige Umstände, die außer der
räumlichen Entfernung die sofortige Erlangung der tatsächlichen Herrschaft über
die Sache hindern, schließen den Besitzerwerb nicht aus, wenn es nach Lage
des Falls sicher ist, daß sie ohne größere Mühe und ohne erheblichen Zeit-
verlust überwunden werden können.
Beispiele. I. A. hat dem ihm sonst gänzlich unbekannten B., mit dem er auf der Eisen-
bahn zusammenreist, dessen Bädeker abgekauft und auch bereits bezahlt; B. hat aber das
Buch noch zurückbehalten, um sich einige Notizen zu machen; nun wird B. durch eine Depesche
veranlaßt, auf einer Zwischenstation plötzlich auszusteigen, und läßt das Buch im Wagen
liegen. Hier ist es für A. außerordentlich leicht, an dem Buch durch einseitige Besitzer-
greifung neuen Besitz zu erwerben. Um aber den alten Besitz des B. durch Übergabe zu
erlangen, bedürfie es des umständlichen Apparats der gerichtlichen Bestellung eines Pflegers,
der namens des B. dessen Besitz auf A. übertrüge! II. 1. C. hat auf dem Büro des
Notars D. dem E. dessen Landgut abgekauft und hat auch auf dem Grundbuchamt bereits
die Auflassung des Guts erwirkt; nun will er begreiflicherweise auch den Besitz des Guts
erlangen. Hierzu ist es nicht, wie bei der einseitigen Besitzergreifung, erforderlich, daß C.
sich auf das Gut begibt, sondern die Übergabe kann sofort auf dem Büro des D. oder auf
dem Grundbuchamt vorgenommen werden.: 2. F. hat im Straßenbahnwagen ein Mark-
stück fallen lassen; das Geldstück muß irgendwo in einem Winkel liegen, kann aber nicht
gleich gefunden werden; beim Aussteigen „schenkt" F. es dem Schaffner G. Hier ist die
Übergabe des Geldstücks von F. an G. gültig vollzogen, es sei denn, daß ein Dritter es
inzwischen heimlich an sich genommen hat. 3. H. verkauft gelegentlich eines Umzuges Möbel
an J.; dieser besteht auf sofortiger Übergabe, obschon ein Wagen zum Wegschaffen der Möbel
nicht zur Stelle ist. Hier kann eine solche übergabe nur in der Art bewerkstelligt werden,
daß H. den J. ermächtigt, sich die Möbel demnächst eigenmächtig abzuholen; daß er ihn
auch in den Stand setzt, zum Zweck der Abholung jederzeit eigenmächtig in seine Wohnung
einzudringen, indem er ihm etwa seinen Hausschlüssel verabreicht, ist wohl nicht nötig.
IV. K. will dem L. einen ihm gehörigen großen, sehr widerspenstigen Hund übergeben.
Hier genügt es nicht, daß K. dem L. den Hund zuführt und ihn für übergeben erklärt,
sondern er muß auch dafür Sorge tragen, daß L. den Hund in seine Gewalt bekommt.
2. Ein Besitzwille auf seiten des Erwerbers ist bei dem Besitzerwerbe
durch Übergabe ausnahmslos erforderlich. Denn ohne ihn wäre eine Einigung
zwischen dem Erwerber und dem Vorbesitzer über den Besitzerwerb nicht möglich.
3. Gleichgültig ist, ob der Vorbesitzer bei der Übergabe irgendein Recht
auf den Besitz gehabt hat.
2) Crome 3 S. 310 568.