§ 188. Rechtl. Bedeutung des Besitzes. § 189. Anspr. wegen Besitzentziehung. 73
fristigen Herausgabeanspruch, seine Stelle nicht in der Lehre vom Besitz, sondern in der Lehre
vom Eigentum (1007) zugewiesen hat. Mit demselben Recht hätte es auch den Paragraphen
über das Verlöbnis ihre Stelle in der Lehre von den unehelichen Kindern bestimmen können.
II. Eine zweite wichtige Rechtswirkung des Besitzes ist, daß der Besitzer
einer Beeinträchtigung seines Besitzes in besonders weitem Maß durch
Selbsthülse begegnen kann. Auch hierüber wird im folgenden genauer zu
handeln sein.
III. Dagegen ist der sonstigen Rechtswirkungen des Besitzes in anderm
Zusammenhange zu gedenken, insbesondre in der Lehre vom Eigentums-
erwerbe.
9) Die kurzfristigen Besitzansprüche.
aqa) Der kurzfristige Anspruch wegen Besitzentziehung.
§ 189.
Der kurzfristige Anspruch wegen Besitzentziehung (inter-
dictum unde vi) wird dem vormaligen Besitzer einer Sache oder seinem
Rechtsnachfolger gegen den jetzigen Besitzer zugestanden. Er dient also zum
Schutz des älteren Besitzers gegenüber dem jüngeren.
I. Die Voraussetzungen des Anspruchs sind bestimmt wie folgt:
1. Die Sache, auf die der Anspruch sich bezieht, kann ein Grundstück,
ein Grundstücksbestandteil oder eine Fahrnissache sein (861 I).
2. Der Anspruchsberechtigte oder sein Rechtsvorgänger muß die Sache
früher in Besitz gehabt, dann aber den Besitz dadurch eingebüßt haben, daß
er ihm durch verbotene Eigenmacht entzogen worden ist (861 I).
a) Es muß eine „Besitzentziehung“, d. h. eine Handlung vorliegen, durch
die jemand den gegenwärtigen Besitz eines andern aufhebt. Daß jemand eine
Sache, die ohne eine solche Handlung — also etwa durch die eigne Tat des
Besitzers oder durch einen Zufall — besitzfrei geworden ist, nachträglich in
Besitz nimmt, genügt also nicht.
Beispiel. A. hat auf einer Gebirgstur seinen Feldstecher auf einem einsamen Berg-
sipfel liegen lassen; tags darauf wiederholt er die Tur, um nach dem Glase zu suchen:
auf halbem Wege begegnet er einem Reisenden B., der es gefunden und sich angeeignet hat.
Hier hängt die Frage, ob A. den Anspruch gegen B. hat, davon ab, ob anzunehmen ist, A.
labe seinen Besitz an dem Feldstecher schon dadurch verloren, daß er ihn auf dem Berge
legen ließ, oder erst dadurch, daß B. ihn an sich genommen hat (s. unten S. 89 III); im letzteren
Fall ist der Anspruch dem A. zuzugestehn; im ersteren ist er ihm zu versagen.
Ist es strei#ig, ob eine Besitzentziehung stattgefunden hat, so ist der Anspruchsberechtigte
beweispflichtig. Vor allem muß er beweisen, daß er oder sein Rechtsvorgänger noch in dem
Augenblick, in dem die Besitzentziehung vor sich gegangen sein soll, im Besitz der Streitsache
gewesen ist: der Beweis, daß er früher einmal den Besitz der Sache erworben hat, genügt
elso nicht; denn eine Rechtsvermutung dafür, daß ein einmal erworbener Besitz bis zum
Beweise seiner Aufhebung als fortbestehend anzusehn sei, gilt nur in sehr beschränkltem Um-