910 Buch VIII. Abschnitt 7. Das Pflichtteilsrecht.
Die vorstehende Regel ist nach ihrem Wortlaut auf „pflichtteilsberechtigte“ Nach-
kommen des Erblassers beschränkt. Doch hat das nicht den mindesten Sinn; denn wie sollte
ein Nachkomme dem Erblasser gegenüber bloß aus dem Grunde freier gestellt sein, weil er
des Pflichtteilsrechts gegenüber ihm darbt? Es handelt sich also zweifellos nur um einen
Redaktionsfehler, den man durch freie Auslegung des Gesetzes berichtigen darf; daß ein der-
artiges offenbares Versehn von den Verfassern des BGB. nicht nur nicht erkannt, sondern
in 2271 III sogar ein zweites Mal begangen ist, gibt allerdings zu denken.
Die Anordnung der Beschränkungen zu b geschieht stets durch Testament, in derselben
Art wie gegenüber einem Pflichtteilsberechtigten (2289 II). Der Urheber der Anordnung
braucht also der Gegenpartei, mit der er den Erbvertrag abgeschlossen, von dem schweren
Eingriff in den Vertrag, den er vorgenommen, nicht einmal nachträglich Anzeige zu machen.
Oder liegt auch hier nur ein Redaktionsfehler vor?
2. a) Hat ein Erblasser, der einen Erbvertrag abgeschlossen hat, nach-
träglich in der Absicht, den in dem Vertrage eingesetzten Erben zu benachteiligen,
Schenkungen vorgenommen, so kann der Erbe nach Anfall der Erbschaft, ähn-
lich wie ein durch Schenkungen des Erblassers beeinträchtigter pflichtteils-
berechtigter Erbe, von dem Beschenkten — gemäß den Regeln über die Heraus-
gabe einer ungerechtfertigten Bereicherung — die Herausgabe des Geschenks
fordern; der Anspruch verjährt in drei Jahren seit dem Erbfall (2287). Daß
seit der Schenkung mehr als zehn Jahre verstrichen sind, schließt das Rück-
forderungsrecht — abweichend von den Regeln über das Rückforderungsrecht
des Pflichtteilsberechtigten — nicht aus.
b) Das nämliche Recht hat auch derjenige, dem durch Erbvertrag ein be-
stimmter Gegenstand vermacht ist, falls der Erblasser diesen Gegenstand in der
Absicht verschenkt oder belastet, den Vermächtnisnehmer zu benachteiligen; doch
gilt dies Recht nur insoweit, als der Vermächtnisnehmer nicht von den Erben
Ersatz erlangen kann (2288 II, Satz 2; s. oben § 433 V.).
II. Die Regeln zu 1 gelten analog, wenn der Erblasser nicht einen Erb-
vertrag, aber zusammen mit seinem Ehegatten ein gemeinschaftliches Testament
errichtet hat, sobald dies Testament nach Maßgabe der früher entwickelten Regeln
für ihn unwiderruflich geworden ist (s. 2271 II, III und oben § 389 III, 2).
Auch hier haben aber die Gesetzesredaktoren nicht umhin gekonnt, einen Redaktions-
fehler zu machen: sie haben nämlich bei den Regeln zu 1 1 a und 1b, nicht aber auch bei
den zu 2 die Anwendbarkeit auf die gemeinschaftlichen Testamente ausgesprochen. Und auch
hier ist das Versehn als solches sofort erkennbar.!1
Anhang. Rüchblick auf das bisherige Recht.
* 448.
I. Das Pflichtteilsrecht der nächsten Angehörigen des Erblassers ist schon
bisher allgemein anerkannt. Doch weicht das bisherige Recht vom Reichsrecht
in zahlreichen wichtigen Beziehungen ab. Wir heben folgende Punkte hervor.
1) NG. 58 S. 64.