8 448. Bisheriges Recht. 911
1. Nach den meisten bisherigen Rechten waren in der aufsteigenden Linie
außer den Eltern auch die Voreltern des Erblassers pflichtteilsberechtigt; in
der Seitenverwandtschaft galten nach bisherigem gemeinem Recht als pflicht-
teilsberechtigt die Geschwister des Erblassers, wenn ihnen eine bescholtene Person
vorgezogen war; dem Ehegatten war ein Pflichtteilsrecht vom bisherigen ge-
meinen und französischen Recht ganz versagt.7
2. Die Höhe des Pflichtteils ist im bisherigen Recht sehr verschieden be-
stimmt worden. So betrug er in Preußen für 1—2 Kinder ½, für 3—4
Kinder ½, für mehr als 4 Kinder ⅜ des gesetzlichen Erbteils.
3. Wurde dem Erblasser nach der Errichtung eines Testaments ein Kind
geboren, so war das Testament nach bisherigem gemeinem Recht nicht bloß
anfechtbar, sondern nichtig. Das gleiche galt in Preußen" mit der Maßgabe,
daß, wenn der Erblasser vor Ablauf eines Jahrs nach der Geburt des Kindes
starb, das Testament gültig blieb, das Kind aber aus dem Nachlaß soviel ver-
langen konnte, als dem am mindesten begünstigten Erben ausgesetzt war.
4. Gemeinrechtlich konnten gewisse Nachkommen des Erblassers nicht bloß
verlangen, daß ihnen in irgend einer Gestalt der Pflichtteil hinterlassen wurde
(materielles Noterbenrecht), sondern sie konnten beanspruchen, daß der Erblasser
sie als Erben einsetzte oder ausdrücklich enterbte (formelles Noterbenrecht);
verstieß der Erblasser gegen letztere Regel, so konnte der Nachkomme das
Testament umstoßen und seinen vollen gesetzlichen Erbteil verlangen.5
5. Nach bisherigem gemeinem, sächsischem und französischem Recht galt der
Pflichtteil als Erbteil: die Pflichtteilsberechtigten waren also, wenn sie den
Pflichtteil fordern konnten, nicht Nachlaßgläubiger, sondern nach Verhältnis
des Pflichtteils Miterben.
II. Auch die Ausdehnung der Regeln des Pflichtteilsrechts auf Erbver-
träge und gemeinschaftliche Testamente war in der bisherigen Gesetzgebung all-
gemein anerkannt worden, soweit sie Erbverträge und gemeinschaftliche Testa-
mente überhaupt zuließ, jedoch in sehr verschiedenem Umfange.v
Zusatz. Kollisionsnormen und Übergangsvorschriften siehe im Zusatz hinter § 391.
Hieraus ergibt sich unter anderm, daß der Anspruch eines Pflichtteilsberechtigten auf einen
Ergänzungspflichtteil selbst dann nach heutigem Recht zu beurteilen ist, wenn zwar der Erb-
lasser 1900 oder später gestorben, die Schenkung aber, auf die der Anspruch sich bezieht, vor
1900 erfolgt ist.
1) Stobbe 5 §§ 305 III, 294 IV.
2) Pr. LR. II, 2 § 392.
3) Dernb. 3 § 143 11.
4) Pr. LR. II, 2 88 454, 455.
5) Dernburg. 3 88 143 f.
6) Stobbe 5 § 305.
7) Stobbe 5 88 311 VII, 312 ½, 1.
8) RG. 54 S. 212.
Cosack, Bürgerl. Recht. 5. Aufl. II. 58