Full text: Handbuch des Öffentlichen Rechts. Band III.1.4. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (4)

98 Fünfter Abschnitt: Gemeinden und Gemeindeverfassung. 1. Die Ortsgemeinden. 8 53. 
8) Mündliche Verhandlung nur vor dem Provinzialausschuß in zweiter, dagegen 
schriftliches Verfahren vor dem Kreisausschuß und Ministerium in erster und dritter 
Instanz. Diese Form greift gleichfalls in wichtigen Fällen platz, vor allem, wenn der 
Kreisrath die gesetzlich vorgeschriebene Zustimmung zu einem Beschlusse der Gemeinde- 
vertretung nicht ertheilen, oder wenn der Kreisrath oder Bürgermeister einen Beschluß 
der Gemeindevertretung von Amtswegen beanstanden will, ferner bei der zwangsweisen 
Einstellung von Ausgaben in den Gemeindeetat, bei Einwendungen gegen die Gesetzlich- 
keit der Wahl und die gesetzlichen Eigenschaften des Gewählten bei Gemeindewahlen u. s. f.1) 
Die Einzelheiten des Verwaltungsstreitverfahrens sind bereits oben geschildert. 
Für die Staatsaufsicht besonders wichtig sind die Regeln, daß Rekurs nicht bloß 
von den Betheiligten, sondern auch vom Vorsitzenden des Verwaltungsgerichts, welches 
die anzufechtende Entscheidung gefällt hat, im öffentlichen Interesse eingelegt werden 
kann, und ferner, daß der Kreisrath im Namen des Kreisausschusses vorläufige Ver- 
fügungen zu treffen befugt ist. 
Soweit die Staatsaufsicht allein vom Kreisrath oder bereits in erster Instanz 
vom Ministerium geübt wird, ist sie an die Formen des Verwaltungsstreitverfahrens 
nicht gebunden. Eine Beschwerde gegen einschlagende Verfügungen des Kreisraths geht 
an das Ministerium. 
3. Kraft ihres Aufsichtsrechts können die Aufsichtsbehörden sowohl negativ den 
Gemeindeorganen gewisse Handlungen verbieten oder ihre Beschlüsse für ungültig erklären 
als auch positiv ihnen gewisse Handlungen anbefehlen. Nöthigen Falls können sie für 
ihre Verbote oder Gebote sich Gehorsam durch Disziplinarstrafen oder sonstige Zwangs- 
maßregeln verschaffen. 
4. Das Ausfsichtsrecht erstreckt sich regelmäßig nur auf die Frage, ob die Hand- 
lungen oder Unterlassungen der Gemeindeorgane gesetzmäßig, nicht auch, ob sie klug und 
zweckmäßig sind. Auch dadurch, daß das Gesetz ganz allgemein gegen Beschlüsse des 
Bürgermeisters und der Gemeindevertretung die Beschwerde oder den Rekurs zuläßt, wird 
an dieser Regel nichts geändert: die Beschwerde oder der Rekurs kann eben nur dann 
von materiellem Erfolge sein, wenn der angefochtene Beschluß als gesetzwidrig nach- 
gewiesen wird ?. 
Doch erleidet die Regel wichtige Ausnahmen: es gibt Fälle, wo die Aufsichtsbehörde 
auch die Zweckmäßigkeitsfrage zu prüfen befugt ist, wo sie also einen an sich gesetz- 
mäßigen Beschluß der Gemeindeorgane lediglich deßhalb umstoßen darf, weil sie ihn für 
unpraktisch hält. Dies gilt überall, wo das Gesetz für einen Beschluß der Gemeinde- 
organe die Zustimmung oder Bestätigung von Seiten des Landesherrn oder einer staat- 
lichen Behörde vorschreibt, z. B. bei der Wahl von Bürgermeister und Beigeordneten, 
beim Erlaß von Lokalstatuten aller Art, bei der Veräußerung von Grundstücken u. f. f. 
5. Das Aufsichtsrecht wird von Amtswegen geübt. Doch steht es, wie bereits 
erwähnt, auch den „Betheiligten“ frei, im Wege des Rekurses die Aufsichtsbehörden um 
ihr Einschreiten zu bitten. Für diesen Rekurs ist — mit einzelnen Ausnahmen — 
eine Ausschlußfrist von 4 Wochen festgesetzt. „Betheiligt“ bei einem Gemeindebeschlusse 
ist nur derjenige, dessen besondere rechtliche Interessen durch den Beschluß verletzt 
werden. Es ist die Beschwerde also nicht als eine Popularklage zu denken, die jeder 
1) KO. Art. 48 III, 3, 6, 7. Andere Fälle find KO. Art. 48 III, 1 (oben S. 97 Anm. 5), 
u. 18 U- Deehhal- kann z. B. der Beschluß eines ländlichen Gemeinderaths, die Oeffentlichkeit der 
Sitzungen auszuschließen, vom Kreisausschuß nicht abgeändert werden. Denn der Beschluß ist 
vielleicht unzweckmäßig, aber nach LO. 43 gesetzmäßig. Siehe Z. 4, S. 70, Abw. Prov. Aussch. 
Starkenb., Z. 2, S. 54.
	        
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