Full text: Handbuch des Öffentlichen Rechts. Band III.1.4. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (4)

Erster Abschnitt. 
Geschichtliche Ginleitung ?. 
§ 1. 1. Vor 1806 gehörte Hessen zum oberrheinischen Kreise des alten römischen Reichs 
deutscher Nation. Im Reichstage besaß Hessen eine Virilstimme, die abwechselnd von Cassel 
und Darmstadt geführt wurde, und nahm außerdem wegen Hanau-Lichtenberg an der Kuriat- 
stimme der wetterauischen und wegen Schaumburg an der der westfälischen Grafen theil. Die 
Stellung Hessens zum Reich war die gewöhnliche der altfürstlichen, nicht kurfürstlichen Lande; 
doch besaß Hessen nicht bloß das privilegium de non evocando, sondern auch ein (seit 1747 
unbeschränktes) privilegium de non appellando, war also — von gewissen Ausnahmefällen abgesehen 
— der Gerichtsbarkeit der Reichsgerichte entzogen. Lehnsherr des größten Theiles von Hessen war 
der Kaiser; es war nämlich Hessen ursprünglich allodial gewesen, aber 1373 durch Lehnsauftrag 
zum Reichslehen erklärt; einzelne Theile Hessens waren aber dem Landgrafen nicht vom Kaiser, 
sondern von dem Bischof von Würzburg (z. B. Darmstadt), von der Abtei Fulda (Nidda) und 
anderen Herren geliehen. Nach innen war Hessen bis zu Anfang dieses Jahrhunderts eine stän- 
dische Monarchie, der Landgraf war insbesondere zur Ausschreibung neuer Steuern nur mit 
Zustimmung der Stände befugt. Die Stände waren anfangs für Cassel und Darmstadt gemeinsam; 
erst 1628 wurden sie getrennt. Seitdem tagten die darmstädtischen Stände in Gießen. Landstand- 
schaft hatten die landsässigen Ritter, die Städte (27 an der Zahl) und die Prälaten (nämlich die 
Universität Gießen und die Deutschordens-Kommende Schiffenberg); den Vorsitz der Landtage hatte 
als Erbmarschall der Senior der freiherrlichen Familie Riedesel zu Eisenbach?). 
2. 1806 erwarb Darmstadt durch die Auflösung des Reichs die volle Souveränetät, unter- 
warf sich aber zugleich durch seinen Beitritt zum Rheinbunde dem französischen Protektorat. Nach 
innen verwandelte es sich in eine absolute Monarchie, indem durch einseitigen Befehl des Landes- 
herrn vom 1. Okt. 1806 die Stände völlig beseitigt wurden. 
3. Am 5. November 1813 erklärte Darmstadt seinen Austritt aus dem Rheinbunde, trat 
1815 dem deutschen Bunde, 1867 mit der Provinz Oberhessen und einem kleinen nördlich des Mains 
belegenen Theile der Provinz Rheinhessen (aus den Orten Castel und Kostheim bestehend) dem 
Norddeutschen Bunde, 1870 mit seinem ganzen Gebiete dem Deutschen Reiche bei. 
Nach innen hin erhielt Darmstadt in dieser Zeit eine konstitutionelle Verfassung. Am 
18. März 1820 erließ nämlich der Großherzog Ludewig I. unter Gegenzeichnung des Ministers 
von Grolmann einseitig ein Verfassungsedikt, d. h. er versuchte dem Lande eine Verfassung zu 
octroyiren; und zwar entsprach diese Verfassung der konstitutionellen Schablone nicht vollständig; 
der Großherzog behielt sich z. B. vor, Gesetze schon dann zu erlassen, wenn auch nur eine von beiden 
Kammern ihre Zustimmung gegeben haben würde. Die auf Grund des Edikts einberufene erste 
Ständeversammlung setzte es aber durch, daß das Edikt in einer Reihe von Punkten abgeändert 
und demnächst in neuer Redaktion verkündet wurde. Die neue Verfassung vom 17. Dezember 1820 
) J. G. Estor, origines juris publici hassiaci, 1752. H. B. Wenck, Hessische Landes- 
geschichte, 1783. Rommel, Geschichte von Hessen 1820. Floret, Historisch-kritische Darstellung 
der Verhandlungen der Ständeversammlung des Großh. Hessen in den Jahren 1820/21. Nöllner 
in Aegidi's Ztsch. f. D. Staatsrecht, Bd. 1, S. 128 (1865). (Beck) Hesfisches Staatsrecht, Bd. 2, 
1832. Weiß, System des Verfassungsrechts des Großherzogthums Hessen, 1837. K. Buchner, 
Das Großherzogthum Hessen in seiner polit. und sozialen Entwickelung von Herbst 1847 bis 
Herbst 1850 (1850). 
2) Diese Familie hatte nämlich nicht bloß reichsunmittelbaren, sondern auch unter hesfischer 
Landeshoheit belegenen Befitz, zählte also nicht bloß zu den Reichsrittern, sondern auch zu den land- 
sässigen hessischen Rittern. 
Handbuch des Oeffentlichen Rechts III. 2. Aufl. Hessen. 1
	        
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