Full text: Handbuch des Öffentlichen Rechts. Band III.1.4. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (4)

2 Erster Abschnitt: Geschichtliche Einleitung. 81. 
ist also nicht eine octroyirte, sondern ist zwischen dem Landesherrn und der Volksvertretung 
vereinbart. 
Die spätere Zeit hat eine bald rasche bald langsame Fortentwicklung der politischen Gesetz- 
gebung gebracht. Den Anfang macht die Agrargesetzgebung und die Gemeindeordnung (1821); dann 
folgt die Beseitigung der politischen Herrschaftsrechte, die den Standesherren und Reichsrittern ge- 
legentlich ihrer Mediatisirung zugesichert waren, und die bei der großen Ausdehnung, welche die 
standesherrlichen und ritterschaftlichen Gebiete in Hessen einnahmen — sie bildeten nicht weniger wie 
¼ des ganzen Großherzogthums — eine empfindliche Schmälerung der landesherrlichen Macht be- 
deuteten; die Beseitigung fand durch gütliche Vereinbarung statt, z. B. 1826 mit Isenburg-Birstein 
und Erbach-Schönberg, 1835 mit Solms-Lich, 1841 mit Solms-Braunfels. Zu Anfang der dreißiger 
Jahre wurde die ganze Verwaltung reorganisirt, die Eintheilung des Landes in Kreise, die Einrichtung 
der Kreisämter u. s. f. durchgeführt, der Administrativjustizhof eingesetzt. 
Das Jahr 1848 brachte große Aenderungen. Am 5. März legt Ludwig II. thatsächlich die 
Regierung nieder, indem er den Erbgroßherzog zum Mitregenten ernennt. Der Erbgroßherzog 
erläßt schon Tags darauf eine Erklärung in liberalem Sinne und beruft Heinrich von Gagern zum 
Ministerpräsidenten. Die liberalen Reformen drängen sich, ohne daß die Abberufung des durch die 
Reichspolitik in Anspruch genommenen Gagern am 2. Juni und seine Ersetzung durch Jaup oder 
der Tod Ludwigs II. und die Thronbesteigung Ludwigs III. am 16. Juni an dem Gang der Dinge 
etwas ändert. Am 14. März wird ein besonderes Justizministerium gegründet, um die Trennung 
von Justiz und Verwaltung auch in der Ministerialinstanz durchzuführen; am 16. März wird die 
Censur aufgehoben, Petitions= und Versammlungsfreiheit verkündet; am 26. Juli werden die Jagd- 
rechte auf fremdem Boden, am 30. Juli die ausschließlichen Gewerberechte aufgehoben, am 2. August 
die Gleichberechtigung der Konfessionen anerkannt, am 7. August die Vorrechte der Standesherren 
und das Lehnrecht, am 22. September die bevorzugten Gerichtsstände beseitigt, am 28. Oktober 
ein öffentliches mündliches Strafverfahren mit Geschworenen, am 1. November eine bewaffnete 
Bürgerwehr eingeführt. Im Jahre 1849 folgt die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht mit 
Ausschluß der Stellvertretung und des allgemeinen gleichen Wahlrechts, die Verkündigung der Frank- 
furter Reichsverfassung, die Aufhebung der Todesstrafe. Inzwischen treten aber Mißbelligkeiten 
zwischen der kraft des allgemeinen Wahlrechts gewählten radikal gesinnten zweiten Kammer und 
der gemäßigt liberalen Regierung ein, die Kammern werden im Januar 1850 aufgelöst; doch verändern 
die Neuwahlen die Kammermehrheit nicht; da wird am 30. Juni 1850 Jaup durch den Frhrn. v. Dalwigk 
ersetzt. Die Kammern schreiten zur Steuerverweigerung und werden am 27. September nochmals 
aufgelöst. Jetzt beginnt die Reaktion, durch eine Reihe von Nothverordnungen gekennzeichnet: 
2. Oktob. Verbot aller politischen Vereine; 4. Oktob. Preßverordnung; 7. Oktob., das allgemeine 
gleiche Wahlrecht wird durch das preußische Dreiklassensystem ersetzt. Durch Gesetze v. 12. Febr., 
14. Juli 1851, 26. April 1852 wird die Stellvertretung im Militärdienst, die Jagdgerechtigkeit 
auf fremdem Boden und die Todesstrafe wieder eingeführt. Wiederholt entstehen Kouflikte 
Dalwigk's mit dem Landtage; 1862 wird von der zweiten Kammer sogar der Beschluß gefaßt, 
gegen Dalwigk die Ministeranklage zu erheben, jedoch ohne Erfolg, da die erste Kammer dem Beschluß 
nicht beitritt; nur mit Mühe erlangt Dalwigk 1866 von der zweiten Kammer die Zustimmung zur 
Kriegsanleihe; am 6. April 1871 tritt er zurück. Seitdem beginnt eine regere Gesetzgebung in 
gemäßigt liberalem Sinne. Es folgen unter Großherzog Ludwig III. (711877) die Ministerien 
von Lindeloff, Hofmann, von Stark, unter Großherzog Ludwig IV. (11892) und Großherzog Ernst 
Ludwig das Ministerium Finger. Als wichtigste gesetzgeberische Akte dieser neuesten Periode seien 
genannt: das Wahlgesetz von 1872, die Kreisordnung, die Gemeindeordnungen und das Volksschul- 
gesetz von 1874, die kirchenpolitischen Gesetze von 1875, das Gesetz über die Oberrechenkammer von 
1879, die Steuergesetze von 1884. Ueberaus eingreifend hat in dieser Zeit auch die Reichsgesetz- 
gebung auf Hessen eingewirkt, was das Militär= und Postwesen, das Armenwesen und die Frei- 
zügigkeit, die Gerichtsorganisation u. A. betrifft. 
Ganz neuerdings (1892, 1893) wurde eine größere Aenderung der hessischen Verwaltungs- 
organisation geplant: der Provinzialdirektor sollte ein eigener Beamter und nicht mehr zugleich mit 
dem Kreisamt eines der Kreise seiner Provinz belastet sein; die größeren Städte sollten als eigene 
Stadtkreise aus dem Kreisverbande ausscheiden; in den Landgemeinden sollten die Bürgermeister 
nicht mehr gewählt, sondern aus den Mitgliedern des Gemeinderaths von der Regierung ernannt 
werden; die Chausseebaulast sollte auf die Provinzen übergehen u. s. f. Indeß hat die Regierung 
die Gesetzentwürfe zurückgezogen, weil sie in der zweiten Kammer auf Widerspruch stießen.
	        
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