Full text: Handbuch des Öffentlichen Rechts. Band III.1.4. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (4)

8877 u. 78. Sittenpolizei. Kirchenstaatsrecht. 137 
Zöglings ablehnt, ist Beschwerde beim Vormundschaftsgericht statthast. Die Kosten trägt 
das Kind selbst oder seine Angehörigen, ergänzend der Armenverband. Die Erziehung 
geschieht in Familien, nur ausnahmsweise in einer Erziehungsanstalt; Hessen selbst besitzt 
übrigens eine amtliche Erziehungsanstalt für verwahrloste Kinder nicht, muß sich also 
an Privatanstalten oder an eine auswärtige amtliche Anstalt wenden. 
8 77. c. Sittenpolizei. Die Sittenpolizei wird von den Kreisämtern und der 
Ortspolizei geübt. Außer den reichsrechtlichen Regeln über Sittenpolizei kommen auch 
zahlreiche hessische Bestimmungen, zum Theil rein örtlicher Art, in Betracht. Zu er- 
wähnen ist, daß außereheliches Zusammenleben, wenn es öffentliches Aergerniß erregt, 
nach vorausgehender Verwarnung bestraft wird 1); desgleichen ist strafbar, wer im Zu- 
stande der Trunkenheit öffentlich Aergerniß gibt?). — Oeffentliche Tanzbelustigungen 
bedürfen der Erlaubniß des Kreisamts und werden durch einen Stempel besteuert. 
Ueber die Zeiten, für welche die Erlaubniß verweigert werden soll, bestehen genaue 
Vorschriften ?). 
§ 78. d. Kirchenstaatsrecht ). I. Allgemeine Bestimmungen. 1. Die öffentliche 
Ausübung aller religiösen Kulte ist freigegeben, sofern sie weder die Gesetze des Staates 
oder der Sittlichkeit verletzt noch Andere in ihren politischen, bürgerlichen oder religiösen 
Rechten beeinträchtigt ). Mit der gleichen Maßgabe ist die Bildung neuer Religions- 
gesellschaften gestattet ). Korporationsrechte besitzt eine Religionsgesellschaft nur, wenn 
sie ihr von der Regierung besonders verliehen werden?). 
2. Jede Religionsgesellschaft, ob mit Korporationsrechten begabt oder nicht, ordnet 
und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig, bleibt aber den Staatsgesetzen und der 
Oberaufsicht des Staats unterworfen. In ihren bürgerlichen und staatsbürgerlichen 
Beziehungen bleiben die Diener und Anstalten der Religionsgemeinschaften den Staats- 
gesetzen unterthan 5). 
Vorübergehend — in der durch Dalwigk geleiteten Reaktionsperiode — hat Hessen gegenüber 
der katholischen Kirche eine große Nachgiebigkeit bewiesen, namentlich in der anfänglich geheim 
gehaltenen Konvention, welche am 23. August 1854 zwischen der hessischen Regierung und dem 
Mainzer Bischof Freiherrn von Ketteler abgeschlossen wurde. Als diese Konvention bekannt wurde, 
erklärte die zweite Kammer sie für eine Verletzung der Verfassung und beschloß, wie bereits oben 
S. 2 erwähnt, gegen Dalwigk die Ministeranklage; da die erste Kammer diesem Beschluß nicht 
beitrat, wurde ihr natürlich keine Folge gegeben. Im Jahre 1866 wurde aber die Konvention 
durch gütliche Vereinbarung zwischen Regierung und Bischof aufgehoben; da aber die älteren vor 
Abschluß der Konvention gültig gewesenen Regeln, welche das Aufsichtsrecht des Staats über die 
katholische Kirche ordneten, nicht wieder in Kraft gesetzt wurden?), so fehlte für das staatliche Auf- 
sichtsrecht nunmehr eine gesetzliche Regel vollständig. Ein Wandel wurde erst — in deutlicher An- 
knüpfung an die preußische Gesetzgebung — durch die Gesetze von 1873 geschaffen, nachdem der Mainzer 
Bischof Ketteler geradezu als Führer der Centrumspartei aufgetreten war. Nach Ketteler's Tode 
1877 blieb der Mainzer Bischofsstuhl lange Zeit hindurch unbesetzt, da die Regierung allen vom 
Domkapitel für die Bischofswürde vorgeschlagenen Kandidaten die Bestätigung versagte; erst 1886 
einigte sich Kapitel und Regierung über die Wahl Hafners zum Bischof. Seitdem ist — gleichfalls 
in Anknüpfung an die preußische Gesetzgebung — eine Milderung der Gesetze von 1873 eingetreten. 
3. Oeffentliche Wege und Plätze können zu religiösen Feierlichkeiten nur mit Zu- 
stimmung der Obrigkeit benutzt werden 10). 
1) Rolizeistrafgesehd. 211. 2) Polizeistrafgesetzb 219. 3) Z. 5. 
4) Köhler, Handb. der kirchlichen Gesetzgebung des Großherzogthums , 1847. 
A. Schmidt. kirchenrechtliche Quellen des Großherzogthums Hessen, 1891. 
Ges. v. 2. Aug. 1848, Art. 1. 
Ges. v. 23. April 1875, betr. die rechtliche Stellung der Kirchen. 
Ebenda Art. 2. 8) Ebenda Art. 4. 
3 Siehe Motive zu dem Ges. die rechtl. Stellung der Kirchen im Staate betr. v. 23. April 1875. 
10) Ebenda Art. 4
	        
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