85. Regentschaft und Stellvertretung. 13
b) Das Privatvermögen des Großherzogs — und ebenso das der Prinzen —
unterliegt dagegen ihrer freien testamentarischen Verfügung. In Ermangelung eines
Testamentes gilt als Regel, daß die Kognaten jedes Erbrechts ermangeln 1); die Agnaten
erben dagegen nach Gradesnähe, ohne daß der Erstgeborene ein Alleinerbrecht hätte. Die
Primogeniturordnung von 1606 8 2 besagt nämlich nur, daß „Land und Leuthe“
nicht zerrissen werden sollen, und nicht mehr als ein regierender Herr sei: wenn dem-
nächst in der nämlichen Primogeniturordnung die jüngeren Brüder dem ältesten auch
alle „liegenden und fahrenden Haab und Güther, die seyen von Unserem geliebten Herrn
Vatter, Landgraff Georgen herrührend ..., nichts ausgenommen“ abtreten, also ein
Alleinerbrecht des Erstgeborenen auch an dem väterlichen Privatvermögen anerkennen, so
ist dies ein rein persönliches Zugeständniß und für die Folgezeit nicht maßgebend.
Später haben freilich die Landgrafen Ludwig V., Georg II. und Ludwig VI. in ähn-
licher Art durch Testament ihre ältesten Söhne zu Alleinerben auch in ihr Privatvermögen
eingesetzt!). Aber auch dies ist eben nur eine freie testamentarische Verfügung gewesen,
kein für die Zukunft bindendes Hausgesetz.
c) Als Entschädigung für die Verkürzung ihres gesetzlichen Erbtheils konnten nach
den Hausgesetzen die durch den Thronfolger ausgeschlossenen Agnaten von ihm ein jähr-
liches Gelddeputat fordern; die Töchter des Landgrafen dagegen konnten standesgemäßen
Unterhalt, solange sie unverheirathet waren, und bei ihrer Verheirathung eine herkömm-
liche Aussteuer fordern 3). Diese Ansprüche dauern noch jetzt fort. Inwieweit der Staat
dafür aufzukommen hat oder ob der Großherzog sie aus den Mitteln der Civilliste zu
decken hat, ist bereits oben") besprochen.
6. An den besonderen Vorrechten des Großherzogs 5) nehmen auch die Mit-
glieder seines Hauses theil; nur die Portofreiheit ist auf den Großherzog und
seine Gemahlin beschränkt, und die Befreiung von der Grundsteuer genießt nur der
Großherzog.
§ 5. d. Regentschaft und Stellvertretung. I. Regentschafté). Sie ist im
heutigen deutschen Staatsrecht in zwei Formen entwickelt. Die eine, ältere, faßt den
Regenten als Vormund des Landesherrn auf, der in dessen Vertretung die Regierung
des Landes führt, die andere jüngere Form überträgt die Regentschaft dem nächsten zur
persönlichen Regierung fähigen Agnaten und läßt ihn als unmittelbaren Vertreter des
Staats kraft eigenen Rechtes regieren. In Hessen gilt die ältere Form: denn da die
Verfassung Art. 5 wegen des Regentschaftsrechts auf das Hausgesetz verweist, und ein
neues Hausgesetz nicht erlassen ist, so müssen die bisherigen Observanzen entscheiden,
welche durchaus auf der älteren Rechtsform beruhen; vgl. namentlich das Testament
Ludwig V., 1625 § 14, Georg II., 1660 § 12, Ludwig VI., 1664 § 11. Es ist
also irrig, wenn man das hessische Regentschaftsrecht „auf die agnatische Verwandtschaft"
gründet?'). Wünschenswerth wäre es freilich, wenn endlich ein hessisches Hausgesetz zu
der neueren Form des Regentschaftsrechts überginge.
1. Die Regentschaft tritt ein, wenn der Großherzog minderjährig oder durch
Krankheit, lang dauernde Abwesenheit u. dgl. an der persönlichen Regierung be-
hindert ist.
. 2 88 schon der hessische Brüdervergleich von 1568, 8 4. (Beck's) Hess. Staatsrecht,
2) Die grkunden in (Beck's) Hess. Staatsrecht, Bd. 2, S. 136, 201, 278.
3) Z. B. Testament Ludwig VI. von 1664, §§ 2—6, 13.
4) S. 6. 5) Oben S. 8, Nr. 6
6) Kraut, Vormundschaft nach den Erundsätzen des deutschen Rechts (1859), Bd. 3, S. 111 f.
7) So Gareis S. 65.