22 Zweiter Abschnitt: Staat und Staatsverfassung. 3. Der Landtag. 8 10.
des Ministeriums binnen 8 Tagen für eine der Wahlen entscheiden; schweigt er, so
entscheidet das Ministerium durch das Loos!).
Die jetzige mittelbare Wahl seit 1850. Zur Zeit der Verfassung wurde dagegen zwischen
Urwählern und Wahlmännern noch ein zweites Mittelglied, die Bevollmächtigten, eingeschoben!
1849 bis 1850 war die Wahl unmittelbar. Das Wahlgeheimniß wird erst seit 1872 wirksam
gewahrt, denn vorher galt der Satz, daß der Wähler seinen Stimmzettel im Wahlzimmer eigenhändig
ausfüllen oder aber die Ausfüllung einem Mitgliede der Wahlkommission übertragen mußte.
II. Wahlberechtigung. 1. Als Urwähler?) sind stimmberechtigt alle
hessischen Staatsbürger loben S. 15), welche das 25. Lebensjahr zurückgelegt haben,
in dem Bezirk der Wahlgemeinde wohnen und seit Anfang des Wahljahrs an ihrem
Wohnsitze irgend eine Staats= oder Gemeindesteuer bezahlen ). Das letztere Erforderniß
bedeutet einen freilich sehr mäßigen Zensus. Durch diesen Zensus und durch die aus
dem Erforderniß des Staatsbürgerrechts fließende Voraussetzung, daß der Urwähler
hessischer Staatsangehöriger und seit drei Jahren in Hessen wohnhaft sein muß, ist der
Kreis der Urwähler erheblich enger begrenzt, als bei der Reichstagswahl. Außerdem ist
ausgeschlossen:
a) wer unter Vormundschaft oder Pflegschaft steht;
b) wer sich in Konkurs befindet, auf die Dauer des Konkursverfahrens;
c) wem rechtskräftig die Stimmberechtigung in öffentlichen Angelegenheiten ent-
zogen ist, auf die Dauer der Entziehung;
d) wer im letzten Jahre zu seinem Lebensunterhalt eine nicht bloß vorübergehende
Armenunterstützung aus öffentlichen Mitteln bezogen hat;
e) wer mit der Entrichtung der Staats= oder Gemeindesteuer länger als 2 Monat
im Rückstande ist!#);
f) die Mitglieder der ersten Kammer;
8) die adeligen Grundbesitzer, welche zur Wahl der Adelsvertreter in die erste
Kammer befugt sind;
h) aktive Militärpersonen 5.
2. Zum Wahlmanng) wöhlbar ist nur ein engerer Kreis der zur Wahl-
gemeinde gehörigen stimmberechtigten Urwähler, diejenigen nämlich, welche seit Beginn des
Wahljahrs an direkten Staatssteuern mindestens den einem Steuerkapital von 80 Mark
entsprechenden Betrag entrichten"). Für eine nur durch Einkommensteuer belastete Person
bedeutet dies Normalsteuerkapital eine Jahreseinnahme von 900—1100 Mark.
3. Zum Abgeordneteng) wöhlbar sind alle stimmberechtigten Urwähler des
Großherzogthums; Wohnsitz in dem Wahlbezirk wird ebensowenig gefordert, wie der
erhöhte Wahlmännerzensus. Ausnahmsweise sind nicht wählbar:
a) Mitglieder der Ministerien und der Oberrechenkammer?:
b) Amtsrichter und Gerichtsschreiber bei den Amtsgerichten 10), die meisten Kreis-,
Forst= und Steuerbeamten und die Polizeikommissäre in denjenigen Wahlbezirken, welche
ganz oder zum größten Theil zu ihrem Dienstbezirk gehören.
Die Zugehörigkeit zum aktiven Heere hebt nur das aktive Wahlrecht als Urwähler
und Wahlmann, nicht aber das passive Wahlrecht als Abgeordneter auf.
1) Wahlgesetz, Art. 32 ff. 2) Wahlgesetz, Art. 6—8, 13.
3) So Ges. v. 6. Juni 1885. Das Wahlgesetz von 1872 forderte Zahlung einer Staats-
einkommensteuer.
4) Ges. vom 6. Juni 1885. 5) R. Ges. vom 2. Mai 1874, § 49.
6) Wahlgesetz, Art. 9, 13. 7) Ges. vom 6. Juni 1885.
8) Wahlgesetz, Art. 12, 13, 15. 9) Ges. v. 14. Juni 1879.
10) Da die Amtsgerichte an Stelle der in Art. 15 des Wahlgesetzes genannten Stadt-, Land-
und Friedensgerichte getreten find.